Himmel über Darjeeling
die andere warf und doch keinen Schlaf fand. Obwohl der hohe, weite Raum kühl und luftig war, glaubte sie, darin zu ersticken. Sie schlüpfte in die leichten Ledersandalen und warf sich ihren Paschminaschal über die Schultern, bevor sie auf die Terrasse vor ihrem Zimmer trat. Die Nacht war kühl, aber die Luft tat ihr gut – sie war klar und doch von einer eigenartigen Schwere, wie getränkt mit Harzen und dem Duft von Hölzern. Tief durchatmend tat sie ein paar Schritte bis an die hohe, glatte Brüstung. Ein Baum mit fedrigen Blättern reckte seine Zweige bis auf die Terrasse. Tief hing der seidige Himmel über der Stadt. Sterne funkelten darauf wie ausgestreute Diamanten. Etliche davon schienen zur Erde herabgefallen zu sein, leuchteten in dem Schachbrettmuster der Straßen, verloren sich allmählich in den Ausläufern der noch immer lebendigen Stadt. Dorthin, wo Himmel und Erde sich in der Dunkelheit trafen, würden sie in ein paar Stunden aufbrechen …
Irgendwo unter ihr näherten sich zwei Männerstimmen. Helena wollte rasch zurück in ihr Zimmer, um kein heimlicher Lauscher zu sein, aber wie unter einem Bann blieb sie stehen. Sie hörte Stühle rücken, das Zischen eines Streichholzes; dann zog der Geruch von Zigarrenqualm zu ihr hoch.
Einer der Männer gab einen tiefen, genießerischen Laut von sich. »Es gibt durchaus Segensreiches, was uns die Engländer mitgebracht haben.«
Helena erkannte die Stimme Ajit Jai Chands. In der Stille, die über dem Haus lag, konnte sie die Worte in Hindustani gut verstehen. Der andere Mann schwieg.
»Du hast ihn also noch immer nicht?« Das Knarren des Rohrgeflechts verriet, dass sich sein Gesprächspartner bewegte, dann wieder in den Stuhl zurückfallen ließ.
»Nein.« Helena hielt unwillkürlich die Luft an, als sie Ians unverwechselbare Stimme erkannte, die in fließendem Hindustani antwortete. »Aber in Bombay erhielt ich eine Nachricht, die mich auf eine heiße Spur gebracht hat. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn aufspüren werden.«
»Solltest du es nicht irgendwann einmal gut sein lassen?«
»Niemals.« Ians Stimme klang metallisch.
»Und was wirst du dann tun? Seit Jahren jagst du ihnen hinterher, kostbare Zeit deines Lebens. Einer ist dir bislang entkommen, wissen die Götter, weshalb. Wenn du deinen Plan vollendet hast – was tust du dann?«
»Das werden wir sehen. Vielleicht endlich Ruhe finden.«
»Rajiv, Rajiv«, seufzte Ajit Jai Chand, »vergiss nicht, dass du nicht mehr allein bist! War es klug, sie in dieses Land zu bringen?«
Er schien auf eine Antwort zu warten, doch Ian schwieg, dann ergriff Chand erneut das Wort, gedämpfter dieses Mal. »Bist du sicher, dass der Angriff auf den Zug lediglich ein versuchter Raubüberfall war, dass dir nicht jemand auf die Schliche gekommen ist?«
»Ganz sicher.«
Ajit Jai seufzte noch einmal. »Habe ich dich nicht neben Mut und Kampfgeist auch Vorsicht gelehrt? Ob es in deine Pläne passt oder nicht – du hast jetzt eine Familie, für die du Verantwortung tragen musst.«
»Ich weiß«, kam Ians verdrossene Antwort.
»Ist dir eigentlich klar, was du ihr allein mit dieser Reise zumutest? Den ganzen Weg bis dort hinaus, gütiger Shiva …«
»Ich hätte sie nicht geheiratet, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich es ihr zumuten kann, Ajitji.«
»Das kann wohl kaum der einzige Grund gewesen sein.«
Ein, zwei Herzschläge verstrichen, ehe Ian entgegnete: »Nein.«
Ajit Jai gluckste vergnügt.
»Das dachte ich mir. Selbst du kannst mir nicht dauerhaft etwas vormachen. Rajiv, das Chamäleon – so haben dich die Kinder früher genannt, nicht wahr? Ich denke, du hast eine gute Wahl getroffen. Wirst du ihr irgendwann die Wahrheit sagen?«
Geräuschvoll blies Ian den Rauch aus. »Irgendwann, ja.«
»Wann?«
»Wenn es Zeit ist.« Ein Stuhl wurde abrupt zurückgeschoben. »Ich möchte noch einmal in die Stallungen, ich will keine unnötigen Verzögerungen morgen. Danke für alles, Ajitji.«
Auch Chand schob seinen Stuhl zurück.
»Es gibt keinen Grund, mir zu danken. Du warst für mich immer wie ein Sohn, seit – «
Die Stimmen verklangen im Inneren des Hauses. Helena starrte noch einige Augenblicke lang in die Nacht hinaus. Rajiv, das Chamäleon.
Rajiv ?
11
E s war noch dunkel, als sie geweckt wurde. Im Schein einer einzelnen Laterne schlüpfte sie in das langärmlige Hemd und die weiten Reithosen, die ihr auf den ausdrücklichen Wunsch huzoors gebracht wurden, wie ihr Gita erklärte.
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