Himmel über Darjeeling
haben, denn er löste eine Hand vom Zaumzeug, um Helena an sich zu drücken.
»Sei unbesorgt«, flüsterte er. »Uns wird nichts geschehen.«
Und wie sich Helena der offenen Landschaft und ihren Gefahren schutzlos ausgeliefert fühlte, so sicher fühlte sie sich in Ians Armen, ein seltenes, ein seltsames Gefühl in seiner Gegenwart und ihr deshalb so kostbar.
Als sei ein Stück der Champs-Élysées nach Kalkutta verpflanzt worden, glänzten die Lichter der Chowringhee Road bei Einbruch der Dunkelheit vor den Fassaden mit ihren Kolonnaden. Die Laternen der Kutschen zogen in einem unablässigen Strom vorüber, Wagen und Pferde ununterscheidbar in der staubblauen Dämmerung. Prächtige Roben, Straußenfedern und Geschmeide leuchteten auf, wenn das Licht darauf fiel. Unablässig zogen die Kutschen ihre Kreise durch die Stadt, ehe es Zeit wurde, sich an die von Silber und Kristall schweren Dinnertafeln zu begeben.
Der flauschige Teppich dämpfte jeden Schritt, jedes Gespräch; in glänzendem Messing und poliertem Holz spiegelten sich Uniformen und elegante Anzüge, vereinzelt der raffiniert drapierte Seidenstoff eines modischen Kleides. Unaufdringlich plätscherte das Klavierspiel des Pianisten in der Ecke durch den Raum. In dieser gediegenen, verhalten luxuriösen Atmosphäre verkörperte die Bar des Grand Hotels den Stolz der Engländer auf ihr Empire und seinen Reichtum. Richard Carter nippte an seinem Whiskey und vertiefte sich wieder in die jüngste Ausgabe des Punch . Es gab für ihn in diesen Tagen nichts anderes zu tun, als zu warten, und er versuchte, sich diese endlosen Stunden möglichst angenehm zu gestalten.
Er mied die Vergnügungen der Stadt, Bälle, Abendgesellschaften, die noblen Clubs und die Rennen auf dem Maidan, obwohl er genug illustre Namen kannte, die er hätte fallen lassen können, um sich überall Eintritt zu verschaffen. Selbst der bunte, vor Leben berstende Basar und die versteckt gelegenen Freudenhäuser konnten ihn nicht locken. Er wartete darauf, seine Reise in den Norden, gen Himalaya antreten zu können, sobald sich ein bestimmter Zug vom Herzen Rajputanas aus ebenfalls dorthin auf den Weg machte. Vereinzelt trafen Telegramme aus seinen Kontoren ein, die er konzentriert las und beantwortete, doch ansonsten verstrichen seine Tage zwischen Morgentoilette und Dinner im Hotel, der Lektüre der Tageszeitungen in der Bar, derjenigen der Börsenmeldungen, auf die hin er die eine oder andere Anweisung nach Übersee kabelte.
Während der Monat Februar verstrich, trafen fast täglich die unbeschrifteten weißen Umschläge im Grand Hotel ein, immer von namen- und gesichtslosen Boten gebracht, die die Informationen enthielten, für die er so teuer bezahlte. Es schien kaum etwas zu geben, was Ian Neville dem Augenschein nach nicht auf dem Kerbholz hatte: Erpressung, illegales Glücksspiel, Bestechung, gar ein Duell und Hinweise darauf, dass aus seinen Taschen Geld an Gruppen floss, die im Verborgenen trachteten, die englische Herrschaft über Indien umzustürzen. Dennoch war ihm nie etwas nachzuweisen, gab es nur Vermutungen, hauchdünne Indizien, und Richard hatte sich zu fragen begonnen, ob in diesem Land jeder käuflich war oder ob es so viele Menschen gab, die Ian Neville hassten. Gründe dafür hätte es viele gegeben – ausgebootete Geschäftsleute, in einer einzigen Nacht des Kartenspiels um ihren gesamten Besitz gebrachte Glücksritter, gehörnte Ehemänner, in ihrem Stolz und ihrer Ehre gekränkte Ladys, sich verraten fühlende Inder, andere Teepflanzer, vom Neid auf die unnachahmliche Qualität des Tees von Shikhara zerfressen.
Fast empfand Richard Carter Bewunderung, sicher jedoch Achtung für diesen Mann, der so gekonnt zwischen beiden Seiten hindurchlavierte, der der Einheimischen wie der Kolonialherren, dabei seinen eigenen Weg ging, ohne eine der beiden offensiv zu verprellen. Er staunte über sein geschicktes Vorgehen in den Geschäften wie auf dem gesellschaftlichen Parkett, seine Rücksichtslosigkeit, fast schon Brutalität. Stück für Stück komplettierte sich das Bild, und insgeheim musste Richard im Nachhinein Holingbrooke Recht geben: Ian Neville war gewiss ein Mann, den man sich besser nicht zum Feinde machte. Doch so viel er nun über seinen Rivalen wusste, so unmöglich schien es, Näheres über seine Herkunft zu erfahren. Aus dem Nichts war Ian Neville vor gut zehn Jahren aufgetaucht, mit genug Geld in der Tasche, um knapp siebenhundert Morgen bewaldetes Land in den
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