Himmel über Darjeeling
Regungslos standen Störche und Kraniche im Niedrigwasser, und am Ufer flogen Gänse auf. Die mächtigen, ineinander verdrehten Stämme der Banyanbäume mit ihren fingerartigen Luftwurzeln, fedrige Bambussträucher, erhabene Tamarinden, Palmen, Platanen und wilde Baumwollsträucher, deren süßer Duft sich mit dem bitteren Ruß der Lokomotive mischte, wechselten sich ab mit Wiesen voller Rinderherden, Feldern, auf denen Bauern arbeiteten, Frauen in ihren leuchtenden Saris, die Wäsche wuschen, planschende Kinder, und wie Juwelen auf einem kostbaren Gewand aus grünem Samt wirkten die kleinen Dörfer und großen Städte, Paläste und Tempel und die allgegenwärtigen Steinstufen, die ghats , allesamt steinerne Zeugen einer jahrtausendealten Geschichte.
» Ganga ma ki jai , gelobt sei Mutter Ganga«, hatte Mohan Tajid leise bei diesem Anblick gesagt. »Hier schlägt das Herz Indiens, steht die Wiege unserer Kultur. Hoch oben im Himalaya, in der Mitte des Alls, entspringt dieser ewige Fluss. Auf Geheiß Shivas hin ließ Ganga, die Tochter des Schneekönigs, ihre Fluten zur sonnenverbrannten Erde hinabströmen. Shiva fing das Wasser in seinen Haaren und teilte es in sieben Flüsse, um die Bedürftigen zu speisen und die Toten zu reinigen. Durch das Bad in den Wassern Gangas wird das Karma aus früheren und jetzigen Leben abgewaschen. Und wer in Benares, der heiligsten aller Städte, am Ufer des Ganges stirbt, wird aus dem Kreislauf der Wiedergeburt erlöst.«
In Shiliguri hatten stämmige Packpferde und zwei Diener sie erwartet, die die zahlreichen Kisten und sie selbst in Empfang nahmen. Ohne die schützende Begleitung der Rajputenkrieger hatten sie sich auf das letzte Stück ihres Weges gemacht. Allein Shushila begleitete sie, in engen blauen Beinkleidern, einer passenden, in der Taille gegürteten Tunika und Stiefeln nicht nur angemessen, sondern auch elegant gekleidet, wie Helena neidisch zugeben musste, und sie fühlte sich einmal mehr plump und ungeschlacht neben ihr.
Jäh und steil erhoben sich aus der Ebene die Felsen, auf denen die Straße bergan führte, im Zickzack tiefe Schluchten und Abgründe überwindend. Im Schritttempo erklommen sie die scharfe Steigung, an Salbäumen, üppigen Teegärten, Bambuswäldern und Reisfeldern vorbei, durch das Dickicht von Kiefern, Kastanien und Birken, Rhododendren und Hortensien hindurch, zwischen denen oft noch Schnee lag, denn es war erst Anfang März.
Es dunkelte schon, als sie Darjeeling erreichten, und die hereinbrechende Nacht hatte bereits die Kämme des Himalaya dahinter verschluckt. Schemenhaft konnte Helena zwischen den schwarzen Silhouetten der hohen Nadelbäume die Umrisse der Häuser mit ihren aus Holz geschnitzten Geländern und Balustraden ausmachen, die sich an die Hänge schmiegten. Der Aufstieg war mühevoll gewesen, und Helena machte die dünne Luft zu schaffen, so frisch und würzig sie auch war. Sie sehnte sich nach einem Bett, einem warmen Lager für die Nacht, doch unerbittlich ritt Ian voran, als bedeutete jegliche Verzögerung einen unersetzlichen Verlust. Längst war Jason im Sattel eingeschlafen, gegen Mohan Tajids breite Brust gelehnt, mit einer leichten Kaschmirdecke gegen die spürbare Kälte geschützt. Gern hätte sie es ihm gleichgetan, doch ihr Stolz hieß sie die Zähne zusammenbeißen und sich aufrecht im Sattel halten.
Sie schreckte aus einem sekundenkurzen Schlaf auf, als der warme Leib eines Pferdes ihren Stiefel streifte. Ian hatte sich zurückfallen lassen, drängte sein Pferd an ihres und streckte einen Arm nach ihr aus. Sie wollte abwehren, doch ihr Körper forderte unnachgiebig sein Recht ein. Willenlos ließ sie sich von Ian in seinen Sattel ziehen und war augenblicklich an ihn gelehnt eingeschlafen.
Vorsichtig reckte sich Helena und setzte sich langsam auf. Schlaftrunken blinzelte sie in den Raum hinein. Das Bett mit seinem Himmel aus zartem, hauchfein bestickten Musselin war aus beinahe schwarzem Holz, das von innen heraus rötlich zu leuchten schien. Die weißen Laken überzog eine Decke in Schattierungen von Rot, Orange und Purpur, aufwändig bestickt. Am anderen Ende des Zimmers, von dessen weiß getünchten Wänden sich die Türen und Fenster aus dunklem Holz warm abhoben, stand ein breiter Frisiertisch, kunstvoll geschnitzt, dessen verzierter Spiegel Helena reflektierte. Über den schimmernden Holzboden, mit weichen, gemusterten Teppichen bedeckt, verteilten sich Stühle mit weißen Polstern, Sitzkissen aus bunter
Weitere Kostenlose Bücher