Himmel über dem Kilimandscharo
Musik, die voller Wärme und Kraft war und ihr die Tür zu einer verlorenen Glückseligkeit öffnete.
Er hörte ihr geduldig zu, ohne sie zu unterbrechen. Nur einmal, im zweiten Satz, lief er hinaus auf den Flur, weil seine Schwester heimgekommen war. Als er zurückkehrte, schloss er leise die Stubentür und setzte sich.
Sie kam nur bis zum dritten Satz, dann waren ihre Finger vollkommen kraftlos vor Anstrengung. Der vierte Satz war der schönste, da stürzten die Töne wie wilde Wasserströme von einem Berg herunter, und die linke Hand musste komplizierte Akkorde greifen– das schaffte sie sowieso nicht.
Kantor Pfeiffer schwieg eine ganze Weile und ließ sie vor dem Klavier sitzen. Als sie sich zu ihm umdrehte, sah sie, dass er Tee trank; eine Schale Kekse stand zwischen den Bücherstapeln, daneben eine zweite Tasse.
» Beethoven«, sagte er schließlich gedehnt. » Sonate Opus zwei– ein frühes Werk. Großartige Musik.«
Ja richtig, das war von dem Komponist Beethoven, jetzt sah sie es auch, es stand ganz klein rechts über den Noten.
» Noch viel zu schwer für dich, Charlotte. Wir werden mit Mozart beginnen, eine kleine Sonate. Und dann Bach, der große Johann Sebastian Bach, unerreicht in seiner Meisterschaft. Für den Anfang ein Stück aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, das war seine Frau…«
» Sie… Sie wollen mir also Unterricht geben?«
» Wir wollen es miteinander versuchen, Charlotte.«
Er stellte die Tasse sorgfältig auf den Tisch und stand auf. Mit einer sanften, fast schüchternen Handbewegung machte er ihr deutlich, dass sie ihm am Klavier Platz machen solle, und sie erhob sich rasch. Er drehte den Schemel wieder herunter, setzte sich und spielte– o Wunder– ganz ohne Noten. Das Stück klang in ihren Ohren sehr merkwürdig. Als habe man die Melodien in ein enges Zimmer gesperrt, wo sie hin- und hergingen, sich höflich voreinander verbeugten, aneinander vorbeiliefen und sich doch immer wieder trafen.
» Gefällt es dir?«
Sie schob die Unterlippe vor und überlegte, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte, dann begriff sie, dass er sie längst an ihrem Gesicht abgelesen hatte. Es sah nicht zornig oder beleidigt aus, eher verlegen.
» Es klingt komisch. Mama hat so etwas nie gespielt. Aber wenn es Ihnen so gut gefällt, dann will ich es lernen.«
» Du musst langsam und gründlich zu Hause üben, Charlotte. Jede Hand einzeln, das ist wichtig, denn jede Hand hat ihre eigene Melodie…«
» Ich kann aber nicht gut üben. Mamas Klavier ist kaputt. Die Töne sind nicht mehr dort, wo sie hingehören.«
» Du meinst… es ist verstimmt?«
» Verstimmt. Ja, die Töne sind verstimmt. Sie sind tiefer als vorher, manche ganz viel, andere nur ein bisschen…«
» Das ist wohl durch den Transport geschehen. So darfst du auf keinen Fall üben, Charlotte. Sag deinem Großvater, dass ich morgen vorbeikomme, um das Instrument zu stimmen.«
Er konnte es reparieren! Ob er dafür viel Geld verlangen würde?
» Setz dich jetzt, und probier einmal die rechte Hand!«
Das war leicht, aber er hatte dennoch vieles auszusetzen, schrieb mit einem Bleistift die Fingersätze über die Noten, verlangte von ihr, die Töne niemals auseinanderzureißen, sondern sie so eng wie möglich aneinanderzubinden. Nun musste sie das Gleiche mit der linken Hand machen, doch die war nicht so gelenkig wie die rechte und musste sich viel mehr anstrengen.
Danach gab es Tee, und sie durfte Kekse essen, während er ihr von Johann Sebastian Bach erzählte, der auch ein Kantor gewesen war und viele Kinder gehabt hatte. Er spielte ihr einige Stücke vor, die ihr sehr konfus und schwierig erschienen, aber das sagte sie nicht, denn sie wollte ihn nicht kränken.
Beim Spielen beugte er sich weit nach vorn, saß mit gekrümmtem Rücken da und– das war das Merkwürdigste– summte vor sich hin. Mal folgte sein Summen der Melodie der rechten, mal der der linken Hand, manchmal war es aber auch ganz kraus und schien gar nicht zu seinem Spiel zu passen.
» Nächsten Freitag, Charlotte!«, sagte er, als sie gehen durfte. » Und du übst keinen Ton, bevor ich dein Klavier gestimmt habe– versprich mir das! Die Noten darfst du mitnehmen, aber roll sie nicht zusammen, das vertragen sie schlecht.«
Kantor Pfeiffer erschien am folgenden Nachmittag im Hause Dirksen, und Tante Fanny musste die Lampe und die Nippesfigürchen vom Klavier forträumen, damit er den Deckel öffnen konnte. Für das Stimmen nahm er keinen Pfennig
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