Himmel über dem Kilimandscharo
gehören. Die Stadt war hässlich, lag geduckt am Ufer des grauen Flusses, und es war kalt, sogar im Sommer. Weshalb hatte der Großvater sie nicht nach Indien reisen lassen, wo immer die Sonne schien und die Menschen freundlich waren? Die Eltern ihrer Mutter hatten einen Brief in englischer Sprache geschrieben und darum gebeten, Charlotte zu sich nehmen zu dürfen. Aber die Großmutter hatte gesagt, sie würde sich eher die rechte Hand abhacken, als das Kind ihres verstorbenen Sohnes in die Fremde zu schicken.
Die Glocke neben der Pfeiffer’schen Haustür war abgerissen, einen Türklopfer gab es schon gar nicht, und auf ihr zaghaftes Pochen hin machte niemand auf. Fröstelnd stand sie da und überlegte, ob sie vielleicht zu früh dran war und erst Nähgarn und Häkchen kaufen sollte. Dann aber entschied sie, die Sache besser gleich hinter sich zu bringen, und drückte einfach die Klinke herunter.
Der Flur war eng, es roch nach feuchtem Holz und schimmeligen Tapeten, auch ein wenig nach Haferbrei.
» Hallo? Ist jemand zu Hause?«
Rechts tat sich eine Tür auf, und die gebückte Gestalt von Kantor Pfeiffer wurde sichtbar.
» Die kleine Dirksen«, sagte er und nickte dabei mehrere Male, als müsse er sich diese Tatsache selbst bestätigen. » Charlotte, nicht wahr? Komm herein, min Deern. Meine Schwester ist nicht da, sonst hätte sie dir aufgemacht…«
Er wohnte mit seiner Schwester zusammen. Ob er keine Frau hatte? Vielleicht war sie gestorben, er selbst war ja auch schon ziemlich alt…
Die Stube war nicht gerade groß und äußerst seltsam eingerichtet. Es gab weder Sofa noch Sessel, nur zwei Stühle und einen kleinen Tisch, der voller Zeitschriften lag. Ringsum an den Wänden standen Holzregale, in denen ebenfalls Bücher und Journale untergebracht waren, sie stapelten sich auf einem Tischlein unter den beiden schmalen, hohen Fenstern, nur der große Schrank mit den Glastüren schien voller Noten zu sein. Wo ein freies Plätzchen an der Wand geblieben war, hatte man Geigen aufgehängt, fünf an der Zahl.
» Dann zeig mir einmal, was du kannst, Charlotte. Hast du Noten mitgebracht? Dein Großvater sagte mir, du würdest fleißig üben. Warte, ich drehe dir den Schemel zurecht…«
Das Klavier war ein ganzes Stück größer als das ihrer Mama: ein einschüchternder, schwarzer Kasten mit schön geschnitzten Säulchen unter der Tastatur und zwei verschnörkelten, goldenen Kerzenhaltern zum Ausklappen. Die Tasten waren jedoch schon ziemlich vergilbt, und ein rascher Blick zeigte ihr, dass es auch nicht mehr davon gab als in dem Klavier ihrer Mama.
Ein scheußliches Quietschen ertönte, als Kantor Pfeiffer an der runden Sitzfläche des Hockers drehte. Charlotte kämpfte indes mit dem zusammengerollten Notenheft, das sich kaum mehr glätten lassen wollte.
» Aha!«, sagte er nach einem kurzen Blick und nickte wieder dreimal. Sonst sagte er nichts, aber er schien das Stück zu kennen.
Sie kletterte auf den Hocker, rutschte darauf herum und rieb sich die kalten Hände. Wenigstens wollte sie sich Mühe geben, wenn der Großvater ihr schon einen Klavierlehrer besorgt hatte– selbst wenn der ein komischer Kauz war.
Die aufsteigende Tonfolge der rechten Hand erklang– Charlotte hielt verblüfft inne. Ungläubig schlug sie einige Töne an, lauschte, und endlich begriff sie. Natürlich– dieses Klavier war in Ordnung, die Töne saßen an der richtigen Stelle!
» Der Anschlag ist sehr leicht«, sagte Kantor Pfeiffer, der sich ihr Verhalten auf seine Weise erklärte. » Bei deinem Klavier zu Hause lassen sich die Tasten wohl schwerer herunterdrücken…«
Sie hatte kaum hingehört und begann das Stück jetzt von vorn. Es klang ungewohnt, nachdem sie sich wochenlang mit dem verwandelten Instrument herumgeplagt hatte, zugleich aber war es wundervoll, ja berauschend. So hatte es bei Mama geklungen, das waren die Melodien, die Akkorde, die sie in Erinnerung hatte. Mit den Klängen stieg auch die schöne Stube im Elternhaus wieder vor ihr auf mit ihren leuchtend gelben Vorhängen und den dunklen Intarsienmöbeln aus Indien. Die Gestalt ihrer Mutter, am Klavier sitzend, zierlich, mit hochgestecktem glänzendem Haar, das Kinn leicht angehoben, die Augen geschlossen, der Musik nachlauschend. Was für ein Zauber in diesen Tönen doch lag! Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu spielen, und es war ihr ganz gleich, dass sie schrecklich viele Fehler machte. In ihrem Inneren vernahm sie jetzt wieder die wirkliche, die echte
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