Himmel über dem Kilimandscharo
Charlotte alle Hänseleien wortlos ertragen hatte– vielleicht hatte die mühsame Erziehung zur Sanftmut ja doch endlich einmal gefruchtet.
» Ich habe gestern mit Kantor Pfeiffer gesprochen«, sagte der Großvater. » Wir sind uns einig geworden, dass du am Freitag um vier bei ihm vorbeischauen darfst, um ihm vorzuspielen. Wenn du ein Talent zur Musik hast, will er dir Unterricht geben.«
» Klavierunterricht?«, rief Tante Fanny voll Empörung. » Das ist ja gediegen. In vier oder fünf Jahren könnte Ettje schon heiraten, und für ihre Mitgift ist kein Geld übrig. Aber Charlotte bekommt Musikunterricht!«
» Du hast schon genug bekommen, Fanny!«, entgegnete Pastor Dirksen kurz angebunden.
Charlotte hätte eigentlich froh sein müssen, dass der Großvater vor der ganzen Familie für sie eingetreten war, aber sie war alles andere als begeistert. Kantor Pfeiffer war ein dürres Männlein mit wehendem, grauem Haar und ungepflegtem Bart, ein Mensch, der sogar am Sonntag eine ausgebeulte Hose trug und von dem die Leute sagten, er sei ein » komischer Kauz«. Früher hatte er in der Lutherischen Kirche die Orgel gespielt und auch die Sänger dirigiert, aber jetzt war er im Ruhestand, genau wie ihr Großvater, und er spielte manchmal wochentags ganz allein für sich die Orgel. Das konnte man hören, wenn man an der Kirche vorbeiging.
Wenn überhaupt, dann hätte Charlotte lieber bei Musiklehrer Böttcher Klavierspielen gelernt; der war glatt rasiert, trug einen blütenweißen, steifen Kragen und besaß sogar eine goldene Uhr mit Kette. Er unterrichtete am Gymnasium und hatte auch viele private Schüler. Aber er war katholisch, das gefiel dem Großvater gewiss nicht, und vielleicht nahm er auch mehr Geld.
Widerwillig zog sie am Freitagnachmittag die Jacke an und steckte das zusammengerollte Notenheft darunter, damit nicht jeder gleich sah, was sie bei sich trug. Kantor Pfeiffer wohnte in der Süderkreuzstraße, gleich hinter der Lutherischen Kirche, wo auch Schule und Armenhaus standen. Er wohnte aber nicht in einem schönen, neuen Haus wie Superintendent Doden, sondern in einem winzigen Backsteingebäude, das zwischen zwei größeren Häusern eingeklemmt war und sich neben den wohlhabenden Nachbarn ganz besonders armselig ausnahm. Zu allem Überfluss bekam sie noch den Auftrag, Nähgarn und Häkchen einzukaufen, denn Tante Fanny nähte inzwischen Wäsche und Kinderkleider für einige Familien in der lutherischen Gemeinde.
Es war Anfang Mai, aber noch sehr kühl, und dazu wehte eine steife Brise, die an Haaren und Rock riss– nur gut, dass sie die Jacke fest zugeknöpft hatte. Auf der Osterstraße spielten einige Mädchen Fangen, zwei davon waren ihre Schulkameradinnen, doch sie kümmerten sich nicht weiter um Charlotte, fragten auch nicht, ob sie mitspielen wollte. Sie hätte es sowieso nicht gedurft, die Großmutter wollte nicht, dass sich ihre Enkelinnen auf der Straße herumtrieben. Mit den Knaben war das etwas anderes– Paul und Jonny waren früher oft mit ihren Kameraden unterwegs gewesen, sogar außerhalb der Stadt in den Wiesen.
In der Norderstraße prallte plötzlich ein kleines Geschoss gegen ihren Arm, und sie blieb wütend stehen.
» Wer mit Klüten schmeißt, der ist selber ein Rabenaas!«, brüllte sie in den offenen Hauseingang hinein. Wer dort stand, konnte sie nicht erkennen, aber es waren ganz sicher Pauls ehemalige Kameraden, die dem unglücklichen Gymnasiasten jetzt spinnefeind waren.
» Schwarze Hexe!«, schallte es zurück.
» Hexe mit gelben Augen!«
» Negerin!«
Zwei weitere Lehmkügelchen flogen ihr entgegen, doch sie wich ihnen geschickt aus. Dafür traf eines davon den Gastwirt Zindler, der mit tief herabgezogener Mütze aus seinem Haus getreten war.
» Verflixte Lausbengels! Wenn ich euch erwische…«
Charlotte lief davon, ohne hinter sich zu sehen, und hoffte dabei inständig, der Gastwirt möge wenigstens einen der Burschen zu fassen bekommen. Doch das war fraglich, denn er hatte einen dicken Bauch, und die Bengel waren schnell auf den Füßen.
Sie versuchte sich damit zu trösten, dass die Feindseligkeiten eher Paul als ihr gegolten hatten, sie hatte sie nur abbekommen, weil sie seine Cousine war. Aber die Beschimpfungen waren ihr nicht unbekannt, sie hörte sie immer wieder. Indianerin, Negerin, Hexe, gelbäugige Katze… Auch Paul sagte das zu ihr, wenn er wütend auf sie war.
Sie war fremd hier in Leer, sie gehörte nicht hierher, und sie wollte auch nicht hierher
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