Himmel über dem Kilimandscharo
nach ihr umgesehen.
George aber ließ sich nicht beeindrucken und setzte sich unaufgefordert neben sie ins Gras.
» Hat Paul dir die Geschichte von dem Wikingerfürsten erzählt, der dort unten im Hügel begraben liegt?«, fragte sie spöttisch. » Eines Tages will er ihn ausbuddeln, weil er glaubt, in seinem Grab jede Menge goldene Ketten und Amulette zu finden.«
» Davon hat er tatsächlich gesprochen. Marie meinte allerdings, dass dieser Schatz in der Obhut kleiner Wesen sei, die sie › Erdmantjes‹ nennt.«
» Möglich. Es gibt jede Menge seltsame Gestalten bei uns in Leer.«
George lachte leise und streckte sich rücklings im Gras aus. Entspannt blinzelte er in den hellen Himmel hinein und schaute ein paar Möwen nach, die über ihnen ihre Kreise zogen. Charlotte kämpfte mit einer ganz ungewohnten Befangenheit. Sie hätte ihm gern gesagt, dass seine Ansichten sie beeindruckt hatten, dass sie ganz seiner Meinung war, doch sie fürchtete auf einmal, dass ihm das gleichgültig sein könnte. Wer war sie schon? Eine unerfahrene, kleine Fünfzehnjährige, nicht besonders hübsch und schrecklich altklug, wie die Großmutter immer sagte. Gewiss war es besser, den Mund zu halten, sonst lachte er sie am Ende noch aus.
» Wo sind die anderen? Wieso bist du ganz allein?«, fragte sie daher.
» Sie haben mich einer Menge Bekannter vorgestellt, und jetzt sitzen sie drüben im Gras bei einer Nachbarin, die sie mit Limonade bewirtet.«
Er lächelte müde, und sie konnte ihn plötzlich gut verstehen. Seit er in Deutschland war, wurde er herumgeführt, allen möglichen Leuten als Sohn aus angesehener Familie präsentiert, man bewirtete ihn aufwendig, spreizte sich vor ihm, schob ihm die heiratsfähigen Töchter zu. Vermutlich war er ganz froh, für eine kleine Weile seine Ruhe zu haben.
» Ist es wahr, dass deine Mutter eine Inderin war?«
Charlotte hasste diese Frage, die ihr schon so häufig gestellt worden war. Immerhin klang sie aus seinem Mund anders, nicht sensationsgierig wie bei den meisten, sondern einfach nur interessiert.
» Nein. Meine Groß mutter war Inderin«, antwortete sie daher knapp.
Er schwieg einen kurzen Moment, und als er weitersprach, vermied er es, sie anzusehen, stattdessen schien es, als rede er zu den Möwen, die über ihnen am Himmel flogen.
» Ich habe Augen wie deine in London gesehen. Dort gibt es viele Menschen aus fremden Ländern, aber nur sehr wenige haben dieses Gold in ihren Augen, wie du es hast.«
Gold? Was redete er für einen Blödsinn! Sie hatte gelbe Augen wie eine Katze, eine Hexe. Hässliche Augen, vor denen man Angst bekommen konnte.
» Sie sind schön und geheimnisvoll«, fuhr er fort. » Wie dieser Edelstein, der eigentlich braun erscheint, im Licht aber plötzlich golden schimmert. Wie heißt er doch gleich auf Deutsch, es will mir nicht einfallen…«
» Tigerauge!«
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, erst als Charlotte zu kichern begann, hob er den Kopf, bemerkte erleichtert ihre Heiterkeit und lachte nun selbst.
» Ich rede krauses Zeug, wie?«
» Ziemlich.«
» Ich wollte dich nicht kränken, Charlotte. Weißt du, manchmal bin ich ein arger Träumer.«
» Klingt ganz danach.«
Er setzte sich mit einem Ruck auf, fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und schaute sie verschmitzt von der Seite an.
» Ja, ein Träumer«, ergriff er wieder das Wort. » Als Kind hörte ich meinen Vater von Indien erzählen und stellte mir orientalische Paläste vor, indische Maharadschas mit goldbestickten Turbanen und weiße Elefanten. Später vertiefte ich mich in allerlei Bücher und Karten, und als Student trieb ich mich in den Vierteln von London herum, wo Inder, Afrikaner oder Araber wohnen.«
Sie staunte, zugleich aber spürte sie so etwas wie Neid. Er hatte sich » herumgetrieben«, war seiner Neugier gefolgt, hatte sich fremde Menschen und Orte angesehen, die ihn anzogen. Wie einfach war es doch für einen Mann, solche Orte zu besuchen, die Frauen aus » anständigem« Hause vollkommen verschlossen waren!
» Du kannst dir nicht vorstellen, Charlotte, wie trist es in London sein kann, wenn der Nebel wochenlang nicht weichen will. Straßen und Gebäude schwimmen in braunem Dunst, Lichter werden zu verwaschenen Flecken, und die Schwermut legt sich mit dunklen, feuchten Flügeln über die Menschen…«
» Das kann ich mir sehr gut vorstellen«, warf sie leise ein.
Sie wechselten einen kurzen Blick, eine Art Solidarität blitzte zwischen ihnen auf, und er
Weitere Kostenlose Bücher