Himmel über dem Kilimandscharo
Augen verderben! Hinauf mit dir an die Sonne!«
Es brauchte ein wenig Überredungskunst, da Klara sich scheute, an Deck zu steigen. Dabei hatte Charlotte ihr immer wieder erklärt, dass man ihre Behinderung dort oben kaum bemerken würde; sie sei nicht die Einzige, die bei dem ständigen Schwanken des Schiffes unsicher daherging.
» Ich bin dir eine ziemliche Last, nicht wahr? Vielleicht hätte ich besser in Leer bleiben sollen…«
» Ohne dich wäre ich niemals fortgereist, Klara. Wir beide gehören zusammen, das weißt du.«
Klara lächelte schwach. Ja, sie beide gehörten zusammen, seit vielen Jahren war das nie anders gewesen. Doch im Gegensatz zu Charlotte, die voller Begeisterung in all das Neue eintauchte, das sie täglich erfuhren, sehnte sich Klara zurück nach dem Haus der Großeltern, der engen Schlafkammer, dem kleinen Garten und all jenen Dingen, die ihr bisher ein sicheres Refugium gewesen waren. Was sollte aus ihr werden in dem fremden Land, wenn sie noch nicht einmal allein eine Treppe hinaufsteigen konnte?
» Nun komm schon. Es ist kaum Seegang, es wird dir leichtfallen.«
Charlotte nahm eine der Decken über den Arm und hakte Klara unter, während sie durch den Männerbereich zur Treppe gingen. Wieso stellte sie sich so an? Klaras ungleichmäßiger Gang war kaum zu bemerken, erst auf der Treppe begann sie zu stolpern, und oben an Deck musste Charlotte sie gut festhalten, da sie bedenklich ins Schwanken geriet.
» Mein Gott, was für ein Licht!«, flüsterte Klara und schloss die Augen. » Es ist unfassbar hell, man ist ganz geblendet davon.«
» Warte nur, bis wir in Neapel sind, dann wirst du Farben sehen, noch schöner als an der spanischen und portugiesischen Küste. Und in Afrika erst…«, schwärmte Charlotte. Bei sich dachte sie: Wenn ich erst einmal weiß, wovon wir leben, werde ich ihr Wasserfarben kaufen, das wird sie glücklich machen…«
Die wenigen Liegestühle waren alle besetzt, aber Klara hätte eine so wacklige Sitzgelegenheit sowieso nicht benutzen können. Charlotte suchte eine windgeschützte Ecke, breitete die Decke auf den Deckplanken aus und half ihrer Cousine, sich darauf niederzulassen. Nicht weit von ihnen hatte sich auch Sarah gelagert, umringt von einigen Mitreisenden. Es ging lebhaft zu, eine Flasche kreiste, und Sarahs Lachen wurde immer häufiger von hellen Kieksern unterbrochen. Matrosen, die auf Deck zu tun hatten, riefen ihr im Vorüberlaufen ein paar Worte zu, doch sie mussten sich vorsehen: Der Maat hatte ein wachsames Auge auf sie. Charlotte war froh, dass die Schiffsmaschine so laut dröhnte, dass sie die Sätze nicht verstehen konnte.
Als Christian endlich an Deck erschien, hatte sich der Himmel bereits wieder bezogen; ein frischer Wind wühlte das Meer auf, das nun plötzlich grau und feindselig erschien. Weißliche Gischtschleier spritzten seitlich des Schiffes empor, noch waren sie harmlos und hübsch anzusehen, ganz anders als in der Nordsee. Da schlugen sie mit gefährlicher Wucht über das Deck, und das Seewasser lief sogar die Treppe hinunter ins Zwischendeck. Missmutig setzte sich Christian neben Charlotte auf die Decke, die unruhiger werdenden Schiffsbewegungen bekamen ihm schlecht, und seine Stimmung war düster.
» Schau ihn dir an, den hochwohlgeborenen Herrn dort oben«, lästerte er und deutete ungeniert mit dem Finger zum Oberdeck hinauf. » Seit Tagen steht er am Geländer und glotzt zu uns herunter, als wären wir eine Horde Affen im Tierpark.«
Auch Charlotte hatte diesen Mann schon öfter bemerkt. Er trug einen hellen Tropenanzug wie viele Passagiere, die in der ersten und zweiten Klasse reisten, doch er ging immer ohne Hut. Sein Gesicht war von der Sonne gebräunt, und er trug einen kleinen Oberlippenbart, sein welliges, blondes Haar flatterte im Wind. Seltsam an ihm war nur, dass er immer allein dort oben stand, vermutlich war er ein Mensch, der sich nicht so rasch an andere Mitreisende anschloss.
» Wie kommst du darauf, dass er uns beobachtet? Er sieht aufs Meer hinaus, das ist alles.«
Christian hatte ihren Einwand gar nicht vernommen, er war viel zu sehr damit beschäftigt, seinem Ärger über die Zurücksetzung Luft zu machen.
» Eine Kabine mit Waschbecken und Fenster, Raucherzimmer, Speisesaal, Salon mit Sofas und Polstersesseln. Was für ein Luxus! Etliche von ihnen schleppen ganze Waffensammlungen mit sich herum, auf Löwenjagd wollen sie gehen, Elefanten und Nashörner schießen. Eingebildete Nichtstuer! Sogar
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