Himmel ueber fremdem Land
vielleicht doch nach Hause geschickt werden. Aber das war ja nicht möglich; nicht, nachdem Tilla ihr gerade die weiteren Pläne für ihre Ausbildung aufgezählt hatte.
»Demy …« Wieder zögerte die junge Frau. Schließlich straffte sie ihre schmalen Schultern, reckte den Kopf und bekam diesen strengen, anmaßenden Blick, den Demy überhaupt nicht ausstehen konnte. In diesem Moment wurde ihr klar, wie wenig ihr gefallen würde, was Tilla ihr zu sagen hatte.
»Wir befürworten es, uns bereits jetzt nach einem Hochzeitstermin für Hannes und dich umzusehen. Natürlich noch nicht in unmittelbarer Zukunft, keine Angst. Aber er sollte festgelegt sein.«
Als sie den Sinn von Tillas Worten begriff, wurden Demys Augen immer größer. Unwillkürlich wich sie nach hinten aus, trat dabei mit ihrem nackten Fuß auf einen im Gras liegenden spitzen Stein, ignorierte aber den Schmerz. Ob die Beschleunigung der Hochzeitspläne etwas mit Ediths Beobachter zu tun hatte? Hatte dieser Mann ihr heimliches Treffen an Meindorff gemeldet?
Das Gefühl, als würde jemand eine Schlinge um ihren Hals unbarmherzig enger ziehen, bemächtigte sich ihrer. Vorwurfsvoll rief sie aus: »Du willst mich allen Ernstes verschachern, weil du fürchtest, ich finde sonst einen Weg, dem Arrangement zu entkommen, nicht? Muss es mir denn so ergehen wie dir? Bist du nur glücklich, wenn ich dein Leid teile?«
»Demy, beruhige dich bitte. Du schreist ja die ganze Dienerschaft herbei.«
»Nein, Tilla. Nein! Da mache ich nicht mit. Niemals!« Das Mädchen wollte die Flucht ergreifen, doch Tilla packte sie erstaunlich schnell und fest am Handgelenk und hielt sie zurück.
»Du magst Hannes doch, also hör jetzt sofort auf mit dem kindischen Gezeter, Demy van Campen!«
Aus ihren blauen Augen blitzte Demy ihre Halbschwester wütend an, beruhigte sich aber so weit, dass sie zumindest den Drang unterdrücken konnte, weit, weit fortzulaufen.
»Mein Schwiegervater ist sehr unglücklich über die Entwicklung mit Hannes und diesem Arbeitermädchen. Er besteht darauf, dass zügig ein Termin bekannt gegeben wird.«
Demy blieb fassungslos der Mund offen stehen. Sollte sie Hannes womöglich noch vor ihrem 16. Geburtstag heiraten? War das überhaupt möglich? Wusste Tilla bereits einen Weg, wie sie Demys wahres Alter weiterhin verschleiern konnte?
»Du musst doch einsehen, dass du es weitaus schlechter hättest treffen können. Ihr zwei kennt und mögt euch. Das ist schon mehr, als viele Paare von sich sagen können, wenn sie heiraten.«
»Ihr würdet uns beide vernichten!«, stieß Demy aus.
»Nun sei doch nicht so halsstarrig.«
»Hannes liebt Edith über alles. Und ich würde mit einem Mann verheiratet sein, der sein Leben lang einer anderen Frau nachtrauert! Das kannst du nicht wollen, Tilla.«
»Es ist längst beschlossene Sache. Auch du wirst noch lernen, dem alten Meindorff nicht zu widersprechen. Was er sagt, ist Gesetz.«
Mit aller Kraft stieß Demy ihre Schwester von sich und rannte in den Garten. Sie ignorierte Tillas Rufe und versteckte sich in dem Gestrüpp vor der Mauer, wo sie ihren verzweifelten und wütenden Tränen freien Lauf ließ. Es war so furchtbar ungerecht, dass andere Leute fortwährend über ihren Kopf hinweg Entscheidungen für sie trafen. Wenn sie Hannes und Edith nicht versprochen hätte, ihnen zu helfen, wäre sie augenblicklich ins Haus gestürmt, hätte sich in die Mitte des Foyers gestellt und lautstark verkündet, dass sie erst 14 Jahre alt war und Hannes weder in einem noch in hundert Jahren heiraten werde. Demy ignorierte Tillas Rufe weiterhin, doch als sie eine Kutsche wegfahren hörte, wurde ihr bewusst, dass ihre Schwester Berlin für längere Zeit verließ, ohne dass sie sich voneinander verabschiedet hatten.
Traurig lehnte sie sich gegen die moosbewachsenen Mauersteine und grübelte darüber nach, wie sie sich aus ihrer misslichen Lage retten konnte, ohne Hannes und ihrer Schwester in den Rücken zu fallen.
Wenigstens blieb ihr noch Zeit, um eine Lösung zu finden. Zudem nahm sie sich in einem Anflug von Rebellion vor, ab sofort zumindest einen Teil ihres anstrengenden Doppellebens aufzugeben. Sie würde bei Fräulein Cronberg die nötige Etikette erlernen, aber niemand konnte sie daran hindern, sich trotzdem so zu benehmen, wie es ihr gefiel!
Kapitel 37
Windhuk, Deutsch-Südwestafrika,
August 1908
Mit einem Satz sprang Philippe aus dem Erste-Klasse-Waggon auf den provisorisch errichteten Bahnsteig hinab, wobei
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