Himmel ueber fremdem Land
verspüren und verhindern, dass Hannes Edith zur Frau nahm? Wohin sonst sollte sie gehen? Am Ende fänden Tilla, Joseph und der alte Meindorff womöglich eines Tages einen neuen Heiratskandidaten für sie, der weitaus weniger nett war als Hannes!
Demy schloss erschöpft die Augen. Sie fühlte sich in die Ecke gedrängt wie ein gefangenes Tier, und sie hasste das Gefühl, von der Willkür anderer abhängig zu sein. Trotzig fragte sie sich, was wohl geschehen würde, falls sie sich ab sofort weigerte, auf alle angeblich wohlmeinenden Vorschläge einzugehen? Setzte sie damit neben Hannes’ und Ediths Glück auch noch das von Rika und Feddo aufs Spiel?
Auf diese Frage wusste das Mädchen keine Antwort, empfand aber zwei ihr mittlerweile vertraute Gefühle umso vehementer: Heimatlosigkeit und Einsamkeit.
***
Demy fühlte sich in den folgenden Tagen wie einer der Elefanten aus dem Tierpark, die sie so gern beobachtete. Die riesigen Tiere schwenkten oft stundenlang ihre mächtigen Schädel von links nach rechts und sahen darin wohl selbst keinen Sinn. Ebenso schwankend durchlebte auch sie ihre Tage. Mal zornig und rebellisch, sogar der erstaunten, aber unerschütterlichen Henriette gegenüber, mal traurig und in Selbstmitleid zerfließend, um gleich darauf eine erstaunliche Gelassenheit an den Tag zu legen.
Einige Tage nach Eintreffen der Todesnachricht aus den Niederlanden wagte es Margarete, Demy auf ihr Verhalten anzusprechen. Sie, Lina und Demy saßen in dem mit Nippes vollgestopften Salon der Pfisters. Während sich aus den feinen, verzierten Porzellantassen auf dem Beistelltisch der heiße Dampf des Tees in Richtung Decke verflüchtigte, waren Lina und Margarete wieder einmal in eine Diskussion über die in Preußen herrschenden Ehegesetze vertieft. Die neueste Errungenschaft der Familie, zwei Kanarienvögel in ihrem Vogelbauer, zwitscherten munter vor sich hin, als stritten auch sie über ihre Rechte und Pflichten.
Demy beobachtete das Gebaren der Ziervögel, vor allem das des deutlich farbenprächtigeren Männchens aufmerksamer, als sie dem Gespräch ihrer Freundinnen lauschte, bis Margarete sie direkt und dem Tonfall nach nicht das erste Mal mit ihrem Namen ansprach und aus ihrer Gedankenwelt riss.
»Demy van Campen! Gerade dich sollte das Thema interessieren. Immerhin wirst du, wie es aussieht, als Erste von uns dreien diesen entscheidenden Schritt tun.«
Demy drehte sich zu ihren Freundinnen um und sah sie erschrocken an. Feinfühlig, wie sie war, musterte Margarete sie, beugte sich vor und legte ihre weiche Hand auf Demys Unterarm. »Was ist denn mit dir? Ich sehe doch, dass dich etwas bedrückt.«
Beim Blick in Margaretes mitfühlende dunkle Rehaugen fiel die sorgsam um Demys Herz aufgebaute Schutzmauer wie nicht gebrannter Ton in sich zusammen. In Margaretes Armen erzählte sie den Freundinnen von allen ihren Erlebnissen und Heimlichkeiten, seit Tilla im letzten Winter mit der Nachricht von ihrer geplanten Vermählung in ihre gemütliche Kammer auf dem niederländischen Gutshof gekommen war.
Nachdem sie geendet hatte, weinte sie an Margaretes Schulter und ließ es geschehen, dass diese ihr sanft über den Rücken strich. Erst als sie sich allmählich beruhigte und ihr Schluchzen, das ein Beben durch ihren Körper sandte, in immer längeren Abständen kam, wurde sie gewahr, dass weder Margarete noch Lina seit ihrem Ausbruch auch nur ein Wort gesagt hatten.
Erschrocken richtete sie sich auf, wischte sich mit beiden Händen die Tränen aus dem Gesicht, was Fräulein Cronberg sicher sehr missfallen hätte, und sah von einer zur anderen. Verachteten sie sie nun wegen ihrer Heimlichkeiten? Wollten sie mit einer Betrügerin und einem kleinen Mädchen, das sie nun einmal war, nichts mehr zu tun haben?
»Es tut mir sehr leid, glaubt mir bitte.« Demy hob flehentlich die Hände. Ihre Schultern sackten nach vorn, als sie den Blickwechsel der anderen beobachtete.
Schließlich erhob sich Lina, drückte sich in dem vollgestellten Raum am Vogelbauer vorbei und trat ans Fenster. Leise sagte sie: »Ich habe Tilla bei dem Empfang vor dem eigentlichen Hochzeitsball kennengelernt. Sie schien mir so reizend und sympathisch. Wie konnte sie dir das nur antun?« Lina drehte sich um und ihre hellen Augen blitzten, während sie, lauter als zuvor, ausrief: »Müssen wir nicht nur gegen engstirnige Männer und die zu ihrem Vorteil entworfenen Gesetze ankämpfen, sondern auch gegen die Barrieren in den Köpfen einiger
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