Himmel ueber fremdem Land
allein ausgehen, aber sag mir, wer mich begleiten sollte? Und Lieselotte und ihre Geschwister sind nette, anständige Menschen. Sie wurden vom Schicksal in das Scheunenviertel verschlagen. Ihre Mutter arbeitet schwer und ihr Vater war ein guter, hart arbeitender Mann, der darunter leidet, dass er seine Familie nicht ernähren kann.«
Ihr Gesprächspartner erhob sich ebenfalls. »Da magst du recht haben. Aber offenbar hat dir niemand gesagt, wie du dich in Berlin verhalten solltest. Du darfst Henny zu deiner Begleitung anfordern, wenn du das Haus verlassen möchtest. Und was diese Leute betrifft, die …«
»Fräulein Demy erhält ab heute Unterricht bei Frau Cronberg. Sie wird in all den Lebensbereichen unterwiesen, die sie seit ihrer Ausbildung in Holland vergessen oder nie gelernt hat. Entsprechend wenig Zeit bleibt ihr in Zukunft für derartige Ausflüge!« Meindorffs Stimme füllte den Speisesaal mit einer solchen Gewalt aus, dass Demy erschauerte.
Hannes nickte seinem Vater zu und setzte sich zurück auf seinen Platz. Unterdessen bat der Hausherr den Diener, ihm das Frühstück in sein Arbeitszimmer zu bringen. Nachdem Charles das Frühstückszimmer mit einem gefüllten Tablett verlassen hatte, bereitete auch Demy sich eine Kleinigkeit zu und setzte sich den beiden Männern gegenüber an den Tisch.
Verwundert betrachtete sie das blau unterlaufene, halb zugeschwollene linke Auge von Philippe, das er bislang gekonnt vor ihr versteckt hatte. Dieser Kerl besaß tatsächlich die Unverfrorenheit, sie wegen ihres ramponierten Aussehens zu verspotten, obwohl er selbst deutliche Spuren einer Schlägerei an sich trug!?
Um seinem hämischen Grinsen zu entgehen, widmete sie sich ihrer Mahlzeit und lauschte dem angeregten Gespräch der beiden Männer über ein paar Damen, die sie am Vortag kennengelernt hatten. Dabei erfuhr sie, dass Hannes zurück in die Kadettenanstalt musste und Philippe in den nächsten Tagen nach Afrika abzureisen plante. Letztere Neuigkeit nahm sie mit Erleichterung auf. Bestimmt ließ es sich in diesem Haus angenehmer leben, wenn dieser unfreundliche, immerzu spottende Mann fort war.
Allerdings bereitete ihr nun der anstehende Unterricht Kummer. Als der Name Cronberg fiel, hatte sie beobachtet, wie Hannes das Gesicht verzog, ehe er sich hastig setzte. Auf Philippes Stirn hatten sich unübersehbare Falten gebildet.
Musste sie sich vor dieser Gouvernante fürchten? Standen ihr unzählige Stunden harten Drills unter lauernden Augen bevor, die jeden noch so winzigen Fehler unbarmherzig aufdeckten? In ihrer Fantasie hörte sie bereits eine schnippische Stimme ihr Tun zerlegen, wie ein Adler seinen erbeuteten Fisch bis auf seine Gräten ausnahm. Trotz und zugleich auch die Furcht, jegliche Freiheit und den letzten Funken Fröhlichkeit in ihrem Herzen zu verlieren, stritten in ihrem Inneren um die Vorherrschaft.
Kapitel 11
Berlin, Deutsches Reich,
März 1908
Henriette Cronberg schritt in steifer, aufrechter Haltung, die Schulter gestrafft und mit erhobenem Kopf um Demy herum, wodurch ihr Hals noch länger wirkte, als er ohnehin schon war. Die Ausgiebigkeit ihrer Musterung versetzte das Mädchen gedanklich auf einen Pferdemarkt. Allerdings übernahm sie in diesem Fall die Rolle des Pferdes! Dabei erklärte die Mittfünfzigerin ihr, dass sie seit ein paar Jahren nicht mehr als Gouvernante in einem einzigen Haushalt arbeitete und lebte. Ihr Ruf war mittlerweile so gut, dass sie in mehreren ausgesuchten Häusern unterrichtete, oftmals Gouvernanten in diese vermittelte und somit ein weitaus angenehmeres Leben führte als zuvor. Und dieses gedachte sie auch beizubehalten, indem sie ihre Schützlinge zu dem erzog, was eine angesehene Dame und einen noblen Gentleman ausmachte. Ihren mühsam erarbeiteten Ruf durfte keiner ihrer Zöglinge ruinieren.
Demy fasste diese Worte als Drohung auf, wenngleich der Tonfall Henriettes gemessen war.
»Fräulein van Campen, Ihre Haltung ist nicht anders als nachlässig zu nennen. Sie wirken für Ihr Alter schmächtig und unterentwickelt. Hoffen wir für Sie, dass Sie bald zu weiblicher Reife heranwachsen.«
Nur mit Mühe unterdrückte Demy ihre Belustigung. Vermutlich würde sie in den nächsten zwei, drei Jahren ihr Umfeld mit ihrer rasch »heranreifenden Weiblichkeit« gehörig erschrecken, denn ihre Mutter war groß gewesen, größer noch als ihr Vater!
»Diese Fransen!«, fuhr Frau Cronberg fort und griff in Demys nachlässig aufgestecktes Haar, sodass sich eine
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