Himmel ueber fremdem Land
Spange löste und unter leisem Klackern über den Boden sprang, während Demys schwarze, schwere Locken wie ein Vorhang über ihre Schultern hinunterwallten. Andere Haarspangen folgten der ersten, die restlichen blieben nutzlos im Haar hängen. »Sie gehören ordentlich geschnitten und drapiert, damit Sie zumindest annähernd wie das aussehen, was Sie sind: eine junge Dame an der Schwelle zum Erwachsenwerden.«
Einzig der eng anliegende marineblaue Rock, dessen Saum mit feiner, heller Spitze geschmückt war, und die dazu kombinierte Bluse fand Gnade vor Henriette Cronbergs Augen. Die Frau nahm Demys Hände in die ihren, betrachtete ihre Finger mit den kurz geschnittenen, sauberen Fingernägeln, ehe sie sich nachdenklich ans Kinn fasste und ihren Weg um das Mädchen herum erneut aufnahm.
»Sie sprechen Französisch?«, wurde sie akzentfrei von ihrer Gouvernante gefragt.
Zögerlich antwortete Demy in der ungeliebten Sprache: »Nicht sehr gut, fürchte ich, Madame.«
»Ich verstehe. Wir benötigen demnach dringend einen exzellenten Französischlehrer. Wie sieht es mit der deutschen Geschichte aus? Kunst? Musik?«
Demy verbrachte den Morgen damit, Henriette Rede und Antwort zu stehen, wobei sie sich in dieser Zeit nicht ein einziges Mal setzen durfte, da die Frau nebenbei an ihrer Haltung im Stehen und Gehen arbeitete. Sie übte Schrittfolgen mit ihr ein und begann mit ihr Bewegungen einzustudieren, wie das anmutige Öffnen einer Tür, das grazile Aufheben eines Gegenstandes oder begleitende Gesten, während Demy über ihr Zuhause referierte.
Nach einer spärlichen Mahlzeit sprach die Gouvernante zum ersten Mal Demys verfärbtes Gesicht an. Inzwischen saßen sie an einem runden Tisch, auf dem zwei mit Kaffee gefüllte Tassen standen. Bei der Gelegenheit wurde die Schülerin im angemessenen Verhalten bei einem geselligen Nachmittagskaffee unterwiesen, obwohl ihr das Gebräu gar nicht schmeckte. Doch die in Berlin beliebten, förmlich aus dem Boden schießenden Kaffeehäuser waren für Frau Cronberg Anlass genug, sie daran zu gewöhnen.
Demy erzählte die harmlose Variante ihres Erlebnisses und hoffte trotzdem, die Frau so zu schockieren, dass sie eine Erholungspause benötigte. Doch Henriette erwies sich als überraschend unempfindlich. Ihr Rücken berührte die Lehne des Stuhls nicht einmal ansatzweise, dennoch saß sie kerzengerade, hielt die Tasse samt Untertasse exakt übereinander und sah Demy unverwandt an.
»Haben Sie bei der Polizei Anzeige gegen die Frau erstattet?«, erkundigte Henriette sich unvermittelt, und Demy schüttelte leicht den Kopf, während sie vorsichtig das Porzellan mit dem rosa Rosenmuster auf den Tisch stellte. Erst als sie das Gedeck sicher losgeworden war, erwiderte sie: »Ich kann die Frau nicht beschreiben. Es war zum Zeitpunkt des Geschehens bereits dunkel, und in der Aufregung hatte ich ohnehin keine Gelegenheit, sie richtig anzusehen. Der Herr Rittmeister meinte auch, es mache keinen Sinn, die Polizei wegen dieses Unsinns von wichtigen Arbeiten abzuhalten.«
Die Erzieherin nickte, und zum ersten Mal sah Demy ein Lächeln über die strengen Gesichtszüge huschen. Sie lächelte zurück, dankbar für dieses Zeichen von Verständnis und Zuneigung.
»Ich fragte, weil die Säuglingsheime dieser Tage beschämend überbelegt sind. Wenn die Frauen ihre Sprösslinge nicht haben wollen, weil sie eine Schande für sie bedeuten oder sie sie nicht durchzufüttern vermögen, werden sie entweder dort abgegeben, zumeist anonym, oder kurzerhand in den Fluss geworfen. Niemand mag sich der Kinder annehmen und kaum jemand unterstützt die Einrichtungen finanziell. Es ist ein Armutszeugnis für unsere Stadt und unser Land, wenn wir den Schwächsten unserer Gesellschaft nicht Schutz und Liebe angedeihen lassen!«
Demy wartete auf das große Aber, auf eine Aufzählung all der Fehler, die sie an diesem Tag begangen hatte, doch dies blieb aus.
»Berlins Straßen sind mittlerweile leider unsicherer als früher. Ein guter Grund für uns, gemeinsam ein paar Regeln für etwaige Spaziergänge aufzustellen, denken Sie nicht auch?«
Demy rümpfte verwirrt die Nase. Frau Cronbergs Worte klangen längst nicht so schrecklich, wie sie befürchtet hatte. Dies ließ sie hoffen, dass der Unterricht, so anstrengend er auch war, in angenehmer Atmosphäre verlaufen würde. Dennoch blieb ihre Befürchtung, ihre ohnehin eingeschränkten Freiheiten könnten noch mehr beschnitten werden und ein Treffen mit Lieselotte oder
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