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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Schreiben dieses Gefühl, das kann ich nicht sagen. Manchmal habe ich das Gefühl, als wäre die Vergangenheit eine Illusion, es ist nur ein Jahrzehnt seit dieser Zeit vergangen, und dennoch erscheint sie mir manchmal wie ein alter Kinobesuch, ich merke, dass ich ein Faible für diese Art von Vergleichen habe; ein Film, an dessen Äußerlichkeiten man sich zwar noch erinnert, an die Ereignisse, die Repliken und Handlungssprünge, wie die ruhige Begleitung durch die Tauben und Fledermäuse – vielleicht wie der Dritte Mann , man erinnert sich an die Bilder und das Harry-Lime-Thema, doch was die Hauptrollen dachten und meinten und wovon sie träumten, das verwischt immer mehr. Wie es wirklich war . Worum es ging, was uns aus der Sinnlosigkeit hervorhob. Leonard und Carla. Carla und Leonard. Das verschwindet aus dem Fokus, vielleicht hat es sich auch nie darin befunden.
    Meine Aufträge für den Geheimdienst gingen weiter, wenn auch in heruntergeschraubtem Maße. Ich lieferte Briefe und Päckchen ab und nahm Gespräche in Telefonzellen entgegen; auf der Paddington Station, King’s Cross und Victoria. Ich fotografierte Treffen mit dem Teleobjektiv, ließ mich bei verwinkelten Spaziergängen durch Parks beschatten, und ich belauschte einen Meinungsaustausch zwischen Nummer Drei vom Außenministerium und einem polnischen Handballtrainer in einer Toilettenkabine von St. Pancras.
    Doch erst im Sommer 1971 traf ich zum zweiten Mal Wolf, den Mann mit dem tätowierten Käfer, und dieses Ereignis brachte es mit sich, dass Carla und ich erneut getrennt wurden. Ich habe nie verstanden, was eigentlich passiert ist, und auch damals wusste ich es nicht, doch selbst wenn ich es gewusst hätte, das eine und das andere, dann weiß ich nicht, in welcher Form ich hätte agieren können, um auf ein anderes Ergebnis zu kommen. Die ganze Situation hatte etwas Unausweichliches an sich, und mein letztendlicher Fehler lag noch einige Jahre in der Zukunft, dieser Zukunft, die ich damals, an diesem Junimorgen, als ich im Zug nach Oxford saß, in gewisser Weise als eine Illusion ansah. Aber immerhin eine Illusion wie eine Nebelbank, die Platz für die Wirklichkeit bot. So war es doch, oder? Ich bin mir selbst nicht mehr sicher, ob ich verstehe, wovon ich rede.

38

    D ie Truppe, die am Morgen des 20. Juli 1968 vom Bahnhof in K. abreiste – nach Göteborg, Immingham, London und dem Leben –, bestand im entscheidenden Moment aus fünf Personen. Drei junge Männer: Stig Lennon Lennartsson, Nisse Hallgren und Leo Wermelin. Zwei junge Frauen: Agneta Svensson und Rigmor Carla Carlgren.
    Es fehlten: Snukke Toivonen, aus unbekanntem Grund, vermutlich eine Mischung aus Geldmangel und anderen Eisen im Feuer, Birgitta Lunner, Ursache ein heftiges Zerwürfnis mit dem Freund – dem ehemaligen Freund, genauer gesagt, Leo Wermelin –, sowie letztendlich Lars Gustav Selén aufgrund einer Scharlacherkrankung.
    Er hatte dennoch gepackt und sich reisefertig gemacht. So nahe war er der Sache gekommen. Doch als er die Treppe hinunterging, fiel er Tante Ragnhild vor die Füße, und das entschied alles. Wenn man nicht in der Lage ist, sich auf den Beinen zu halten, dann kann man sich auch nicht auf eine lange Reise begeben.
    Er war gepunkteter als ein Marienkäfer. Das Fieber maß 39,9 Grad. Er wurde ins Bett gesteckt. Die Tante marschierte zum Bahnhof und teilte den Schulkameraden mit, dass Lars Gustav Selén ausfiel.
    Er wünschte, er würde sterben. Jedes Mal, wenn er aufwachte, war sein Kopf von diesem einzigen Gedanken erfüllt. Ich möchte sterben.
    Doch meistens schlief er.
    Es war Enge August, als er Nisse Hallgren vor Balders Würstchenbude traf. Nachdem das Scharlachfieber vorüber war, war er zu Nilssons Beton zurückgekehrt. Die neue Abmachung besagte, dass er dort bis Ende September arbeiten würde, dann war es an der Zeit, zum Militär bei P10 in Strängnäs einzurücken. Jeden Tag spielte er mit dem Gedanken, sich umzubringen. Er begriff eigentlich selbst nicht, wie es ihm gelang, jeden Morgen aus dem Bett zu kommen. Zu frühstücken, sich aufs Fahrrad zu schwingen und gegen den Wind zur Fabrik zu strampeln. Armierungen, Armierungen, Armierungen. Abends und am Wochenende las er Bücher in seinem Zimmer. Er ging fast nie aus. Er begann eine Art bittere Beobachtungen über die Sinnlosigkeit des Lebens zu schreiben. Schwarze Kotze war die Überschrift.
    »Hello, Pal«, sagte Nisse Hallgren. »Wie ist die Lage?«
    »Hej«, erwiderte Lars Gustav. »Ihr

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