Himmel über London
aber innerhalb der nächsten Tage über den ganzen Körper ausbreitet.
Er schlug auch Soho nach, doch da stand nichts. Was etwas merkwürdig war, aber sollte es sich um ein Zeichen handeln, dann konnte er es jedenfalls nicht deuten.
Die Notizen in der Schwarzen Kotze wuchsen im Laufe des Herbstes beträchtlich an, und zum Advent begann er mit seinem dritten dicken Notizheft mit Wachsumschlag, manchmal überlegte er, dass diese Aufzeichnungen eventuell zu dem Buch werden könnten, das er schreiben wollte. Der Entwurf dazu, wenn sonst nichts. Er meldete sich freiwillig zum Dienst für Weihnachten und Silvester, und allein in diesen zwei Wochen bekam er mehr als zwanzig Seiten zusammen.
Außerdem las er viel. Lieh sich Bücher und verstand den Zusammenhang zwischen sich selbst und all diesen fiktiven Menschen, die ihm begegneten, nicht so recht. All diesen Geschichten und diesen Schicksalen. Manchmal meinte er sie bis auf Punkt und Komma zu kennen, Heathcliff wie Raskolnikow oder Madame Bovary, dann erschienen sie ihm wieder so fremd wie die graugrünen, lärmenden und oberflächlichen Stubenkameraden. Aber so waren nun einmal die Verhältnisse, dachte er. Lars Gustav Seléns Verhältnisse , er wusste, dass er auf einem schmalen Grat über dem Meer der Geisteskrankheit balancierte.
Aber vielleicht ging es allen Menschen so, auch das dachte er. Vielleicht balancierten sie alle. Nur dass sie es sich nicht anmerken ließen, und wenn man es genauer betrachtete, dann war das eine geschickte Strategie. Jedenfalls war die Literatur gespickt mit Männern und Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, das konnte jeder feststellen, der sich ein wenig Mühe gab. Auch mit Menschen, die die Grenze überschritten. Menschen in dem sogenannten realen Leben kannte er nicht, weshalb er keine Vergleiche anstellen konnte.
Und wenn es trotz allem einen Gott gab, dann war er jedenfalls der Unbegreiflichste von allen.
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Das gelbe Notizbuch
I ch kann nicht sagen, warum ich Gelb ausgesucht habe. Später habe ich gedacht, es hätte vielleicht etwas mit dem Schöpferischen zu tun. Dass Gelb die Farbe der Kreativität ist. Des Offenen, der noch unversuchten Möglichkeiten. Der Freiheit und des Sprungs, das jedenfalls behauptet Berenski.
Aber das sind nur nachträgliche Überlegungen. Als ich in dem Papierwarengeschäft auf dem Kudamm in Berlin stand, gingen mir wahrscheinlich derartige Gedanken nicht durch den Kopf. Schwarz hätte allen Überlegungen nach deutlich besser gepasst, wenn ich nach der Tonfarbe der Zusammenfassung gegangen wäre. Dem, was ich schrieb und geschrieben habe, fehlt der Stempel des Schöpferischen. Ich habe das Bedürfnis gespürt, es aufzuzeichnen, diese Jahre in Worte zu fassen, diesen Abschnitt meines Lebens, bevor die Nebel des Vergessens ihn für alle Zeiten unzugänglich machen. Vielleicht gibt es im Leben jedes Menschen einen Abschnitt, ein paar Jahre oder vielleicht nur ein paar Monate, die im Rückspiegel wichtiger erscheinen als all die anderen Jahre und Monate, ich kann mir das vorstellen. Die Absicht, meine persönliche Absicht ist, abzuwägen und abzuschätzen, natürlich, aber nicht jetzt, nicht im Moment des Schreibens, sondern später; wenn diese bleiernen Tage kommen und man dem Tod so nahesteht, dass man nichts anderes mehr zu tun hat, als zu versuchen, zurückzuschauen und zu begreifen. Und dann ist es nur gut, wenn man es in Druckschrift vor sich hat.
Und dieser tiefe, geradezu gesättigte gelbe Farbton hat mir immer schon zugesagt. Er ist ganz einfach schön. Abgeklärt und, wie es mir manchmal erscheint, sogar dreidimensional. Doch ich will nicht von der Farbe dieser festen Umschläge sprechen, bevor ich mich Oxford und der Woodstock Road widme, sondern vom Zweifel. Diesem heimtückischen Gift, das wie die Fäule eine Frucht mitten in ihrer frischesten und lebensbejahenden Schönheit angreift. Nun ja, wieder so eine quälend hinkende Beschreibung. Ich bin nie ein reifer Apfel gewesen.
Nein, also nicht angreifen. Denn er kommt wie ein Dieb in der Nacht, und man merkt erst sehr viel später, was einem gestohlen wurde. Sicher kannte ich das Sprichwort post coitum omne animal triste est , die Melancholie, die nach dem vollzogenen Paarungsakt eintritt, nach dem Beischlaf, dem ernsthaften Spiel, oder wie man es nun nennen möchte. Es hat mich sicher auch schon überfallen, bevor ich Carla getroffen habe, seit ich ein praktizierendes Geschlechtswesen bin, wie ich mir vorstellen kann, doch immer nur
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