Himmel über London
den verschiedenen Kinos, die dort arbeiteten, sie irgendwann einmal wiedererkannt hat. Es muss sie doch irgendjemand bemerkt haben und auch ihre wiederholte Verwandlung in der Damentoilette.
Ich erinnere mich auch, dass ich sie fragte, ob ihre Manöver wirklich nötig seien, und wenn ja, ob sie denn ausreichten, um einen eventuellen Schatten abzuschütteln. Carla erklärte, dass alles nach den üblichen Spielregeln ablief. Dass man ihre Wohnung unter ständiger Beobachtung hielt, war selbstverständlich, und man wusste natürlich, dass sie eine Nacht in der Woche irgendwo anders zu verbringen pflegte. Die Schlussfolgerung daraus war sicher, dass sie einen Liebhaber hatte, und wenn sie es für wichtig angesehen hätten, herauszufinden, um wen es sich dabei handelte, dann hätten sie sich sicher die Mühe gemacht, es zu tun. Aber Carla war kein Greenhorn in der Branche, wenn jemand versucht hätte, ihren Kinotrick zu knacken, dann hätte sie es bemerkt, daran hegte sie absolut keinen Zweifel.
Ein heimlicher Geliebter einmal die Woche, das konnte also toleriert werden, so hatte das System entschieden. Zumindest bis auf weiteres.
Und der heimliche Geliebte tolerierte die Bedingungen. Bis auf weiteres und noch viel länger.
Carla fuhr fort mit dem, was sie ihre Tätigkeit nannte – ich weiß nicht, in welchem Ausmaß –, und mit ihrer Übersetzer- und Dolmetscherarbeit bei der Botschaft. Mit dem einen wie dem anderen. Wir sprachen darüber nicht im Detail, auch das gehörte zu den Bedingungen, aber wir sprachen natürlich über Ost und West. Über Freiheit und Diktatur, über Gedankenkontrolle, über die absolute Macht des Systems über die Staatsbürger, über die Repression im Blutkreislauf und über die Notwendigkeit, jede Sekunde auf der Hut zu sein. Carla war Mitglied der Partei, das war eine der Voraussetzungen dafür, dass sie auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs arbeiten durfte. Sie erzählte mir von ihrer Familie, von ihren Eltern, die beide in dieser Zeit mit nur gut einem Monat Abstand starben, sie fuhr zur Beerdigung ihrer Mutter, doch nicht zu der ihres Vaters, das wurde nicht erlaubt – von ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Anja, ihrem etwas hölzernen, aber gutherzigen Schwager und von dem kleinen Bobik, dem geliebten Neffen. Über den Prager Frühling und den Sozialismus mit menschlichem Antlitz redeten wir, diese nur kurz währende Illusion. Über die sowjetischen Panzer, über Jan Palach und über vieles, was passiert war; die kurze und traurige Geschichte der Tschechoslowakei, die zerbrechliche erste Republik zwischen den Kriegen, ebenso zerbrechlich wie die Hoffnung 1968, wie Carla meinte. Über Hitlers Machtübernahme, ihre Eltern hatten zu denen gehört, die ihr Land mit der Waffe in der Hand hatten verteidigen wol len, und sie hatten sich bereits 1939 für das geschämt, was passierte. Gern sprach sie über diese Tatsache, die Scham, die sie hinsichtlich ihres Landes und ihres Lebens gefühlt hatten; wenn man die Nazis nicht einfach so ohne Widerstand empfangen hätte, dann wäre man auch nicht ein so leichtes Opfer für den Kommunismus gewesen, das war einer der leitenden Gedanken ihres Vaters. Darüber führten wir lange nächtliche Gespräche, ja, das taten wir wirklich, wie auch über die früher so genannten Eurokommunisten, diese verwöhnten, plappernden Rotweinlinken, die sie mit gründelnden Enten mit Schlagseite in einem Ententeich verglich. Sich zankende Kleinkinder in einer Sandkiste. Ja, wir redeten viel über all das, doch wir redeten nie über die Zukunft. Weder über die Zukunft unserer Länder noch über unsere eigene. Die Zukunft ist eine Illusion, sagte Carla, zumindest jetzt im Augenblick, und ich habe keinen Platz dafür, noch habe ich einfach keinen Platz.
Wir waren beide ungefähr dreißig. Wir hätten uns andere Fragen stellen sollen. Wir hätten unsere Beziehung ausbauen sollen. Wir hätten darüber reden sollen, ob wir Kinder und ein eigenes Heim anschaffen wollten. Doch das taten wir nicht. Ich glaube, ich stellte mir vor, dass es eines Tages einfach dazu kommen würde, es war nur so, dass die Zeit noch nicht reif war; ja, wenn ich zurückschaue, möchte ich gern glauben, dass ich es einfach als gegeben ansah. Dass sie eines Tages sagen würde, jetzt ist es genug, Leonard, jetzt gehen wir auf ein Schiff, fahren über den Atlantik und beginnen ein gemeinsames Leben. In Kalifornien. In New York oder Florida. Aber vielleicht habe ich auch nur jetzt beim
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