Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
Vom Netzwerk:
als leicht bedrückender, stiller Wunsch nach Ruhe, Schlaf und temporärer Auszeit. Gemeinsam mit Carla entwickelte es sich jedoch zu etwas anderem; nicht zu Beginn, auf keinen Fall während des ersten Herbsts der Bläue und Röte – und auch nicht während der Anfangszeiten in Craven Terrace. Es kam später, im Herbst 1970, wie ich glaube, auf jeden Fall dann im Winter; im Rückblick fließen diese Monate ineinander über, das ist unvermeidlich, da unsere Treffen sich jedes Mal so ähnlich waren. Doch ein Bild bleibt mir in der Erinnerung haften, ich liege spät in der Nacht oder ganz früh am Morgen wach im Bett, nachdem wir uns bis zur Atemlosigkeit geliebt haben, ihr Kopf ruht schwer auf meinem Arm, die Tauben und die Fledermäuse murmeln leise auf der anderen Seite der Wand, vor dem Fenster fällt Schnee, sie schläft erschöpft und sicher, mit der Zungenspitze im Mundwinkel, und ich werde von der erste Woge von … Nichtigkeit? überfallen.
    Ich kann kaum noch atmen, doch es ist ein Sauerstoffmangel in der Seele, es hat nichts mit Körper, Fleisch oder Lunge zu tun. Hätte ich eine Möglichkeit gefunden, ohne größere Umstände das Leben in diesem Moment zu verlassen, in dieser vollendeten Stunde, in der sich nicht das geringste Bedürfnis zeigte oder ein Handeln erforderte, dann hätte ich sofort zugegriffen. Warum nicht? Was ist es, das mich – das uns – zurückhält? Warum weitermachen?
    Allein die Tatsache, dass diese Alternative auftaucht, dass sie sich auf diese Art und Weise darstellt, bedeutet natürlich etwas. Es bedeutet wahrscheinlich, dass diese Fragestellung rhetorisch ist und ihre eigene negative Antwort beinhaltet. Ist das Leben nicht sinnlos? Doch, das ist es natürlich. Kann es jemals besser werden als jetzt? Nein, das kann es natürlich nicht. Wozu soll es dann gut sein, es immer wieder zu wiederholen? Wer erträgt dieses Joch des Lebens …?
    Und so weiter.
    Dass derartige Gedanken träge in diesen postkoitalen Hafen einsegelten, war schon lange nichts mehr, was mich beunruhigen konnte; das redete ich mir ohne Probleme ein. Doch dann kamen sie zurück, diese Jahre waren die wichtigsten meines Lebens, und vielleicht war es diese Einsicht, die mir zu früh kam. Bereits während sie noch vergingen; es würde nie besser werden als jetzt, und soweit überhaupt eine Weiterentwicklung möglich war, so würde sie gezwungenermaßen zum Schlechteren hinführen. Ich sprach nie mit Carla darüber, behielt meine fruchtlose Westmelancholie für mich (ich bin mir sicher, dass sie es als solche aufgefasst hätte), und eigentlich war sie auch nie existent, wenn wir uns trafen.
    Drei, vier Mal im Monat, wie gesagt. Perücke, Mantel, die dunkle Brille … Rotwein, immer italienisch, auch das änderten wir nie, ein wenig Käse, ein bisschen Brot, etwas Obst, selten kochten wir wirklich zusammen, das war nicht nötig. Zigaretten, Berührungen, Hände, Haut, Körper, Geschlecht. Worte; wir müssen viele Worte benutzt haben, aber vielleicht sprachen wir über uns eher als sie und er und nicht als du und ich , das stelle ich mir so vor. Wir waren zwei Menschen, die am selben Ufer gestrandet waren, aus unterschiedlichen Welten, und wir suhlten uns in diesem unschuldigen Faktum. In dieser Form sahen wir einander, vom Wind getriebene Figuren aus einem französischen film noir oder einem Buch. Wir übernahmen selbst die Rollen, das war ebenso einfach, wie sich in seinem Spiegelbild wiederzuerkennen. Ja, um so etwas in der Art kann es sich gehandelt haben, ich finde natürlich nicht die richtigen Worte, die notwendig wären für eine sinnvolle Beschreibung, doch es herrscht kein Zweifel daran, dass wir beide brillante Schauspieler waren. Und die Reue, die mich von außen überfiel, war nicht mehr als ein außerordentlich milder und hochgezüchteter Virus, der sich sehr lange in meinem Organismus aufhalten konnte, ohne wirklich einen Schaden anzurichten.
    Der fallende Schnee, die leisen Tauben und Fledermäuse, ihr Kopf auf meinem Arm und ihr schwerer Schlaf. Zwei vollkommen beliebige Menschen, hatte sie es so nicht einmal bezeichnet? Vielleicht war er nichts als Einbildung, dieser Virus? Warum werden derartige Fragen ständig in unseren nie ruhenden Gehirnen ausgebrütet? Wozu soll das gut sein? Warum können wir uns nicht einfach damit begnügen, wer auch immer zu sein?
    Vielleicht war es ja auch einfach nur so, dass der Schwall des Verliebtseins langsam koagulierte, zumindest kann man die Sache auch von diesem

Weitere Kostenlose Bücher