Himmel über London
ihren Freunden gegenüber. Gregorius wie auch ihre Mutter Maud und ihr Stiefvater waren zwar genervt davon, dass sie anscheinend ständig im Bad war, wenn sie hineinwollten, daran erinnerte sie sich noch, aber sie waren im Grunde genommen alle genauso sehr mit sich selbst beschäftigt wie sie, und dass junge Mädchen viel Zeit vor dem Spiegel verbrachten, das war ja vollkommen normal. Bereits als Fünfzehnjährige achtete sie darauf, dreimal am Tag zu duschen, morgens, nachmittags und abends, aber sie versuchte immer einen Zeitpunkt zu finden, der nicht mit den Gewohnheiten der anderen kollidierte. Beispielsweise vor sechs Uhr morgens – und gleich nachdem sie aus der Schule nach Hause kam, da war normalerweise die Luft rein. Außerdem war die Wohnung am Barins Park, in der sie aufwuchs (und in der Maud und Leonard immer noch wohnten), groß genug, und es gab dort eigentlich auch zwei Badezimmer, aber alle benutzten nur das neue, das italienische.
Nachdem sie zu Hause ausgezogen war, wurde es einfacher, sowohl mit der Körperhygiene als auch mit dem Essen. Wenn man nur auf die eigene Person Rücksicht nehmen muss, lässt sich das Leben getreu dem Muster einrichten, das man sich selbst sucht; sie erinnerte sich noch, wie es in der ersten Zeit in der Broomstraat in ihrem Inneren vor Glück und Zufriedenheit geprickelt hatte, wenn sie sich frisch geduscht und sauber an den Tisch setzen konnte, auf dem ein Teller ausschließlich mit makrobiotischen Produkten stand, die sie selbst im Planet Organic eingekauft hatte und dann in einer glänzend sauberen Küche gewaschen, geschnitten und zubereitet hatte. Eine einsame Kerze stand auf dem Tisch, in genau dieser Sekunde, bevor sie anfing zu essen, während der sie die Serviette auf ihren Knien zurechtschob und Messer und Gabel ergriff, ja, da hatte sie das Gefühl, als würde sich ihr die Ewigkeit öffnen.
Das lag inzwischen ein Jahrzehnt zurück. Damals war sie eine junge Jurastudentin gewesen, inzwischen hatte sie die Ausbildung beendet. Sie arbeitete bei einer renommierten Anwaltskanzlei und half Menschen und Firmen, belastende Steuern zu vermeiden. Es gab auch andere Aufgaben auf ihrem gut organisierten Schreibtisch, Testamentsfragen, Sorgerechtsstreitigkeiten und Ähnliches, aber hauptsächlich kümmerte sie sich um Steuerproblematiken. Lübke, Schröder & Dollmeyer beschäftigten sechs Juristen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Kompetenzen, aber je nach Arbeitsbelastung musste man ab und zu auch mal Kollegen helfen. Was kein großes Problem war. Sie arbeitete jetzt seit mehr als drei Jahren bei LS&D, und es gefiel ihr ausgezeichnet. Dass die Firma nicht weniger als zwei solide, gut gepflegte Badezimmer für die Angestellten bereithielt, machte die Sache noch besser. Das Büro lag in einer alten Prachtwohnung aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, und als die Brüder Lübke es Mitte der Neunzigerjahre kauften und renovierten, achteten sie darauf, so viel wie möglich von seinem alten Stil und Charme zu erhalten. Irina Miller dachte ab und zu, dass sie eigentlich nichts dagegen hätte, bis zu ihrer Pensionierung an diesem Arbeitsplatz zu bleiben.
Heute war der 10. September im Jahr des Herrn 2010. Zwei Tage zuvor hatte sie ihren einunddreißigsten Geburtstag begangen, ausnahmsweise hatte sie ihn zusammen mit Gregorius gefeiert, schließlich waren sie ja am selben Tag geboren. Sie hatten bei ihr zu Hause gemeinsam in aller Schlichtheit gegessen; ein wenig Hummer, ein wenig Fisch, ein wenig Weißwein, aber Gregorius war nicht besonders gut gelaunt gewesen und hatte sie nach dem Dessert, einem einfachen Obstsalat, verlassen. Sie nahm an, dass eine neue Frauengeschichte sein Dasein trübte, aber wie üblich vermied sie es zu fragen. Vielleicht waren es auch finanzielle Probleme, in dem Fall hatte er diese aber noch unter Kontrolle, da er sie nicht um einen Kredit bat. Vermutlich eine Kombination aus beidem, zu dem Schluss war sie gekommen, als sie anschließend unter der Dusche stand – versäumte Beziehungen, versäumte Ökonomie, versäumtes Leben –, sie wusste, dass er zu ihr kommen und ihr alles erzählen würde, falls es wirklich ernst wurde. Sobald, genauer gesagt, nicht falls. Zu gegebener Zeit, auch das war wie üblich.
Aber am heutigen Tag waren es nicht der erst vor kurzem überstandene Geburtstag oder ihr haltloser Bruder, die ihre Gedanken beschäftigten. Es war Leonard.
Leonard Vermin war in ihr Leben getreten, als die Zwillinge elf Jahre alt
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