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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Der mich auch tagsüber zwischen den Regalen bei Foyle’s im Griff hatte.
    Ich spielte mit dem Gedanken, Carla aufzusuchen. Auf irgendeine Weise Kontakt mit ihr aufzunehmen; in der Nähe ihrer Wohnung, wenn sie auf dem Weg zu oder von ihrer Arbeit in der Botschaft war, das wäre die einfachste Möglichkeit gewesen, aber ich beschloss, damit noch zu warten. Jeden Tag beschloss ich, noch zu warten. Es war zu gefährlich, wie ich mir einredete, es war höchstwahrscheinlich, dass man sie bewachte – dass jemand sie bewachte –, und vielleicht hatte man mich auch im Blick. Ich wusste nicht, wer jemand oder man war, welche Kräfte dahintersteckten, aber ich hatte Wolfs Worte noch in guter Erinnerung, und irgendwie hatte ich immer dieses unscharfe Bild dieser unschuldigen kleinen Familie in Prag vor Augen. Die Schwester, der nüchterne Schwager und Klein Bobik. Geiseln, genau darum ging es. Sehr viel deutlicher verstand ich jetzt, wie es ist, diese Repression im Blut zu spüren, dem System ausgeliefert zu sein, der unsichtbaren, doch überall anwesenden Gewalt. Dass Wolf etwas Böses repräsentierte – wenn auch in größerem Zusammenhang –, schien äußerst logisch, doch in welcher Art dadurch Carlas Position definiert wurde, davon konnte ich mir keinen Begriff machen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass meine verbotene Beziehung zu ihr gar nichts mit Politik, Geheimdiensten und Spionage zu tun hatte, mit Ost gegen West, Eisernen Vorhängen und einem Sozialismus ohne menschliches Antlitz, sondern dass es um eine ganz andere Ebene ging. Eine persönlichere Ebene; konnten Wolf und Carla eine Affäre gehabt haben, bevor ich ins Bild kam? Konnten sie ein Liebespaar gewesen sein? Geradeheraus gesagt. Als wir das erste Mal zusammen waren, hatte sie von einer früheren, beendeten Beziehung erzählt, daran erinnerte ich mich; wir hatten es nie wieder erwähnt, und es fiel mir schwer, mir vorzustellen, dass es sich um einen Mann wie Wolf gehandelt haben könnte. Aber natürlich, es hatte andere Männer in ihrem Leben gegeben, vielleicht sogar viele, warum nicht? Und jetzt? Wie war es heute? Woher wusste ich denn, dass sie nicht …
    Zwischen drei und vier Uhr nachts gelangte ich oft zu dieser Frage, zu der Zeit, die ganz richtig Wolfsstunde genannt wird, und meine Fledermäuse und meine Tauben hatten mir nur wenig Trost zu bieten.
    Mein quälendes Warten setzte sich bis Mitte September fort. Ich ging wie üblich zu meiner Arbeit bei Foyle’s, ich hatte das zu dem Zeitpunkt bereits seit fast zweieinhalb Jahren getan, aber ich hatte mit dem Bücherklauen aufgehört. Zumindest mit dem täglichen, es gab mehr als zweihundert ungelesene Romane bei mir daheim in Craven Terrace, und seit ich Carla wiedergetroffen hatte, hatte mein Lesehunger deutlich abgenommen. In den letzten Wochen, nach den Ereignissen in der Woodstock Road in Oxford, konnte ich mich kaum noch so weit konzentrieren, dass ich eine Evening Standard durchbekam, und es war wahrscheinlich allerhöchste Zeit, dass dieser hinkende ältere Mann hereinkam und mir ihre Nachricht überbrachte. Wer immer er auch sein mochte; jedenfalls geschah es in der Abteilung für Okkultismus und Aberglauben im dritten Stock; ein gelbes Papier lugte aus einem Buch mit dem obskuren Titel Witchcraft for Revengers heraus, das er auffällig vor meinen Füßen zu Boden fallen ließ.
    Ich las die Instruktionen auf der Personaltoilette; es dauerte eine Weile, bis ich sie voll und ganz verstand.
    lass uns treffen und gemeinsam auf die maskerade gehen. kensington gardens square, nordöstliche ecke, morgen 8.10 pm c.
    Als ich es verstanden hatte, wunderte es mich nicht mehr. Ich hatte schon vor langer Zeit aufgehört, mich zu wundern. Ich spürte nur – wieder einmal –, dass alles vor einer Entscheidung stand.
    Ich war pünktlich zur Stelle. Meine Verkleidung bestand aus einem Schlapphut, einem angeklebten Schnurrbart und einem langen Regenmantel; alles hatte ich bei Whiteleys gleich um die Ecke eingekauft, und glücklicherweise regnete es. Ich kam mir wie ein Idiot vor. Wie jemand, der durch einen Irrtum erst vor einer Stunde aus einer psychiatrischen Klinik entlassen worden war – aber ich hatte gar nichts dagegen, als ein Idiot betrachtet zu werden, und ich war mir zumindest sicher, nicht beschattet zu werden. Nachdem ich ungefähr eine Minute gewartet hatte, kam ein schmächtiger Mann langsam auf dem Bürgersteig von Porchester Gardens her auf mich zuspaziert. Seine Schritte waren etwas

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