Himmel über London
unsere Schritte lenkte; unseren Alltag, unsere Liebe, unsere Möglichkeiten, ein würdiges Leben zu führen. Ja, ich war diese versickernde Bläue leid, diese angestrengte rote Flut und all diese überspannten, rigorosen Sicherheitsrituale, die uns umgaben – die mit der Verzauberung und der Anspannung einhergingen und die uns vom ersten Moment an umgeben hatten, also seit diesem Abend auf dem Trafalgar Square, der inzwischen so unendlich weit entfernt schien. Ich war codierte Mitteilungen und lichtscheue Übergaben leid, imaginäre Spione, tote Körper in verregneten Parks und Typen wie Wolf; ich wollte ein anständiges Leben mit Carla führen, ich wollte mit ihr wie Mann und Frau leben, ganz gleich, wo auf der Welt, ich wollte Kinder mit ihr haben, wie viele auch immer; das waren Gedanken, die ich bisher nie ausgesprochen hatte, die ich nicht einmal mir selbst eingestanden hatte, aber jetzt, an diesem gewöhnlichen Küchentisch mit einer weizenfarbenen, bestickten Leinendecke, einer wuchernden Topfpflanze mit kleinen roten und weißen Blüten und zwei halb heruntergebrannten Kerzen in patinierten Kupferkerzenhaltern in einer Wohnung in der Talbot Road, einen Steinwurf entfernt von St. Stephen’s Church, überfiel es mich mit aller Macht. Mein Herz schoss mir in die Kehle und küsste meine Zunge, ich brachte alles in einem einzigen langen Wortschwall heraus und beendete ihn so:
»Ich will dich heiraten, Carla. Ich will mit dir leben. Nicht nur ab und zu einen Abend oder eine Nacht, wenn der Große Bruder die Gnade hat, wegzugucken, ich will jeden Morgen neben dir aufwachen, und das für den Rest meines Lebens. Verdammte Scheiße, warum müssen wir uns so verhalten? Ich liebe dich.«
Ich lehnte mich zurück, zündete mir eine Zigarette an und versuchte meine eigenen Worte zu verdauen. Was Carla wahrscheinlich auch tat, wir saßen beide eine ganze Weile schweigend und rauchend da. An diesem Abend hatten wir keinen Wein, aber der war auch nicht nötig.
»Übrigens war das eine Liebeserklärung«, fügte ich hinzu. »Und ein Heiratsantrag auch, falls du das nicht mitbekommen hast.«
Ich hatte gehofft, dass Carla zumindest lachen und meine Hände nehmen würde, doch das tat sie nicht. Sie saß nur da, auf der anderen Seite des Tisches, mit ihrem fremden Jungsgesicht, und sah immer unglücklicher aus. Drückte ihre Zigarette aus und fing an zu weinen.
Ich verlasse diese ermüdende Beschreibung an diesem Punkt. Es sind seit der Küche in der Talbot Road acht Jahre vergangen, es war schwer, den Abend Wort für Wort wiederaufleben zu lassen, und die Fortsetzung lässt sich ebenso gut mit ein wenig mehr Distanz berichten.
Folgendermaßen: Später in der Nacht liebten wir uns. Als wäre es das letzte Mal, es gab Stimmungen und Momente, die wirklich darauf hindeuteten, aber dann war es doch nicht so. Wir trafen uns noch einmal im Herbst, Anfang Oktober, ein paar Tage, bevor sie in die Tschechoslowakei zurückkehrte, wieder war sie fast bis zur Unkenntlichkeit verkleidet, aber dieses Mal zumindest als Frau, und an diesem Abend erklärte sie mir:
»Es gibt eine Alternative, Leo. Ich weiß nicht, was du davon hältst, aber ich will sie dir zumindest aufzeigen. Du kannst mit zu mir nach Prag kommen. Dann können wir dort ein gemeinsames Leben anfangen, wenn du es wirklich willst.«
»Ist das möglich?«, fragte ich. »Werden wir dort ein normales Leben führen können?«
»Es kommt darauf an, was du unter normal verstehst«, antwortete sie. »So normal, wie es in unserem sozialistischen Paradies möglich ist. Aber von deinem westlichen Standpunkt aus gesehen sicher nicht normal.«
»So viel verstehe ich schon«, sagte ich. »Aber keine Verkleidungen mehr, keine Geheimnistuerei?«
»Sie werden uns natürlich überwachen, jeder, der mit jemandem von der anderen Seite zusammenlebt, muss mit besonders hoher Aufmerksamkeit rechnen. Aber wenn du einige Papiere unterschreibst und erklärst, dass du … dass du freiwillig und aus moralischen Gründen beschlossen hast, diesen korrupten und sittenlosen Kapitalismus zu verlassen, ich glaube, dann werden sie uns akzeptieren.«
»Kann ich dann mit dir zusammen einreisen?«
Es war wie gesagt nur wenige Tage, bevor sie sich in ein Flugzeug in Heathrow setzen musste. Zumindest behauptete sie das.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht. Und ich will nicht, dass du jetzt eine Entscheidung triffst. Es ist ein Entschluss, der dein ganzes Leben betrifft. Denke darüber nach,
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