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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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unsicher, er trug einen kaputten Regenschirm, und als er mich erreicht hatte, blieb er vor mir stehen und bat um Feuer. Erst nachdem ich seine Zigarette angezündet hatte, erkannte ich, dass es Carla war; sie hatte ihr Haar unter eine Mütze gestopft, trug Jeans, Lederjacke und grobe Schuhe, und sie hatte ihr Gesicht so geschminkt, dass sie wirklich wie ein etwas verwahrloster Jüngling aussah. Bartstoppeln und Pickel und so, es war eine meisterhafte Verkleidung.
    »Mein Gott, ich hätte nie gedacht …«
    »Psst.«
    Sie bedeutete mir, still zu sein, wir gingen nebeneinander zur Westbourne Grove und dann weiter Richtung Westen nach Notting Hill.
    Eine Viertelstunde später befanden wir uns in einer Wohnung an der Talbot Road. Es war keine von denen, die wir vor drei Jahren in unserem ersten Herbst benutzt hatten, und es war offensichtlich, dass hier tatsächlich jemand wohnte. Die Küche und die beiden Zimmer waren voll mit persönlichen Utensilien, es roch süßlich nach Tabakrauch, vielleicht auch ein wenig nach Marihuana, und die Einrichtung hatte einen weiblichen Touch. Rot, gelb und lila, überall Stoffe. Große Pflanzen, Bücher und Zeitschriftenstapel, ein Aquarium ohne Fische. Nachdem wir unsere Verkleidungen abgelegt und uns jeweils auf eine Seite des Küchentischs gesetzt hatten, fragte ich Carla, wer denn hier wohne.
    »Eine Freundin«, sagte Carla. »Es ist kein sicherer Ort, aber ich hatte keine andere Wahl.«
    Ich konnte ihrer Stimme anhören, dass sich die Lage verändert hatte. Dass sie wieder der Vogel war, der an ein Fenster geflogen war. Sie hatte ihr Haar geöffnet, trug aber immer noch diese merkwürdige Schminke, es sah aus, als wären ihre Augen im falschen Gesicht gelandet, dadurch hatten sie diesen unverkennbaren Ausdruck von Traurigkeit.
    »Ich verstehe nicht, was da in Oxford passiert ist«, setzte ich an.
    »Alles ist schiefgelaufen in Oxford«, sagte sie. »Alles.«
    Was natürlich überhaupt nichts erklärte, deshalb wartete ich auf eine Fortsetzung. Sie zog eine Zigarette heraus und zündete sie an, während sie mich unverwandt anschaute.
    »Ich schätze dich so unglaublich«, sagte sie schließlich, »aber ich fürchte, wir sind an eine Grenze gelangt.«
    Was auch nicht besonders viel erklärte, doch es klang so unheilvoll, dass ich spürte, wie Panik in mir aufstieg.
    »Was bedeutet das?«, brachte ich nur heraus.
    »Das bedeutet, dass wir uns nicht mehr sehen können.«
    »Aber wir sitzen doch hier.«
    »Ich weiß, dass wir hier sitzen. Ich musste dich noch einmal sehen, um …«
    »Um was?«
    Sie zuckte mit den Schultern, doch es war eine unechte Geste. Ich sah, dass sie den Tränen nahe war. »Vielleicht, um alles zu erklären?«, fragte sie mit leiser Stimme.
    Ich dachte nach. »Was für ein Verhältnis hast du zu Wolf?«, fragte ich. Ich konnte ebenso gut gleich den Stier bei den Hörnern packen.
    Sie schaute mich überrascht an. Zumindest glaube ich, dass sie überrascht war. »Wolf? Ich kenne keinen Wolf.«
    »Der Mann mit der Käfertätowierung?«
    Sie runzelte die Stirn. Ich bin mir sicher, dass sie das tat. »Leo, jetzt verstehe ich wirklich nicht, wovon du redest.«
    Ich gab auf. »Ich habe mich daran gewöhnt, dass ich keinerlei Erklärungen erhalte«, stellte ich fest. »Aber es stimmt wohl, was du sagst. Wir sind an eine Grenze gelangt. Ich liebe dich über alles auf der Welt, aber ich habe seit drei Wochen so gut wie kein Auge mehr zugetan. So ist es ja wohl nicht gedacht, dass die Liebe einen verrückt machen soll.«
    »Das ist das Problem«, sagte sie, kurz auflachend. »Du glaubst immer noch, dass wir in der besten aller Welten leben.«
    »Blödsinn«, widersprach ich. »Wir leben in der einzigen Welt, die es gibt. Sie sieht nun einmal so aus, und daran können wir nichts ändern, weder du noch ich. Aber wir können etwas an uns selbst ändern. Wir können so nicht weitermachen. Ich schaffe es nicht mehr.«
    »Du schaffst es nicht mehr? Du schaffst es nicht mehr?«
    Plötzlich lag ein ironischer Unterton in ihrer Stimme, und das war vielleicht gar nicht so verwunderlich. Ich begriff selbst nicht, woher meine plötzliche Schärfe kam, es war ja nicht Carla, der ich überdrüssig war, es war dieses ganze verfluchte Versteckspiel und diese Geheimniskrämerei. Resignation; gegenüber einem unmenschlichen, missglückten System, an das wir nicht glaubten und das zu bekämpfen wir uns alle Mühe gaben, zumindest bildete ich mir das ein. Aber ein System, das trotzdem alle

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