Himmel über London
heftig waren, dass er sich nicht beherrschen konnte. Er lag zuckend auf seinem kariert gemusterten Badezimmerboden und schrie vor Schmerzen, und da er vergessen hatte, die Tür abzuschließen, waren bald seine Nachbarn bei ihm. Sie hießen Kalmander, die Frau war Krankenschwester, und sie rief sofort einen Krankenwagen.
Zwei Tage später war Lars Gustav Selén wiederhergestellt. Dass seine Krankentage auf einem Selbstmordversuch beruh ten, erfuhr nie jemand. Weder jemand in der Taxischlange am Bahnhof noch sonst einer, nur im Krankenblatt gab es darüber eine Notiz. Er bekam eine Therapeutin, eine Frau namens Madeleine, die der Schweigepflicht unterlag, sie trafen sich mehr als ein Jahr lang einmal die Woche, und sie sollte in seinem inneren Leben eine gewisse Rolle spielen.
Während seines Urlaubs im folgenden Jahr, im Sommer 1974, unternahm Lars Gustav Selén die erste etwas umfangreichere Reise seines Lebens. Er flog nach London und verbrachte vier Wochen in dieser brodelnden Stadt, und in dieser Zeit legte er den Grundstein für den Roman, an dem er viele, viele Jahre arbeiten sollte. Er wuchs sehr umständlich heran, parallel zu seinem übrigen Schreiben und Lesen, Lars Gustav war genau mit den Worten und der Komposition, schrieb um, korrigierte, änderte die Namen der Figuren, änderte Tempus und Erzählerperspektive und hatte insgesamt das Gefühl, dass dieses Projekt, dieser Londonroman, ihm eine legitime Entschuldigung dafür gab, weiterzuleben und einen Platz auf diesem blaugrünen, doch überbevölkerten Planeten einzunehmen. Er hatte nicht den Anspruch, jemals mit der Arbeit fertig zu werden, zumindest nicht, bis er spüren würde, dass der Tod ihm in den Nacken blies, und es kam immer wieder vor, dass das Manuskript Monate, ja ein Vierteljahr lang liegen blieb, ohne dass er sich die Mühe machte, damit weiterzukommen. Doch gewisse Erzählungen sind so, sie lassen sich nicht bearbeiten und in die Hand nehmen zu jeder Zeit oder Unzeit, was er langsam merkte und verstand, der Erzähler lenkt den Leser, doch die Erzählung lenkt den Erzähler. Besonders nachdem er im Frühling 2006 in den lethargischen Zustand eines Frührentners übergegangen war, kristallisierte sich diese Erkenntnis heraus und erforderte Aktion. Was das innere Leben betraf, so bedeutete dieser Zeitpunkt zweifellos einen Wendepunkt.
Es war im Herbst 2004 und im darauffolgenden Winter, dass Lars Gustav Selén immer häufiger Probleme mit dem Rücken bekam. Er schien sich zu versteifen, und an gewissen Tagen schaffte er es nach beendeter Schicht kaum aus dem Auto. War gezwungen, sich mit beiden Händen am Wagendach festzuhalten, um sich hoch- und hinauszuziehen. Dann blieb er mehrere Minuten gekrümmt stehen, bevor er langsam wagte, sich aufzurichten. Es tat höllisch weh, manchmal war es genauso schlimm, wenn er morgens aus dem Bett wollte. Die Schmerzen lagen in den unteren Wirbeln, nicht an dem Punkt, an dem er vor fünfunddreißig Jahren von dem Stahlarm getroffen worden war, doch wahrscheinlich hing es damit zusammen. Das war zumindest die Vermutung des neuen Arztes in der Köpmangatan, Doktor Markovic. Und offensichtlich waren die Spezialisten im Landeskrankenhaus der gleichen Meinung, denn nach einigen ergebnislosen Behandlungen mit Laser, Massage und Akupunktur und allen möglichen anderen Dingen war man sich im März 2006 einig, dass es nun genug war. Lars Gustav Selén war 58 Jahre alt und mit dem Arbeitsleben fertig.
Er brachte eine Prinzessinnentorte zur Taxischlange, bekam eine Topfpflanze und marschierte mit seinem schiefen Rücken zu Fuß nach Hause. Es schneite. Die Topfpflanze erfror. Das war’s.
43
Das gelbe Notizbuch
E ine Woche verging.
Zwei Wochen. Ich hörte nichts von Carla. Auch sonst von niemandem, schon gar nicht von Wolf. Wofür ich nur dankbar war, es kam vor, dass ich Albträume von ihm hatte, auch wenn ich nachts wahrlich nicht viele Stunden schlief. Manchmal gar keine. Der August wurde zum September; ich fuhr zum Antiquariat in der Hogarth Road, wo ein Zettel am Fenster klebte, wonach man wegen Krankheit bis auf weiteres geschlossen hatte. In der Badeanstalt im Porchester Centre, das ich zwei Abende die Woche aufsuchte, wurde auch kein Kontakt zu mir aufgenommen, und niemand fiel mir auf. Keine Nachricht war in meinen Kleiderspind geschoben worden. Nichts. Meine Frustration erschien mir langsam wie eine chronische Krankheit. Ein mentaler Juckreiz, mit dem ich morgens aufstand und abends zu Bett ging.
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