Himmel über London
später in der neuen. Er war der treueste Entleiher der Stadt, wechselte aber nie auch nur ein Wort mit dem Personal. Jede Woche acht, zehn Bücher jeweils, so viele passten in seine alte Aktentasche, die sein Vater, der Lügner und Bahnhofsvorsteher Teodor Selén, 1947 für ein Butterbrot und ein Ei im Hafenviertel von Marseille erstanden hatte. Oder war es ein Jahr früher? Echtes französisches Leder.
Meistens verschlang Lars Gustav Romane, ab und zu ein historisches Werk oder etwas Psychologisches. Es kam vor, dass er bei Prawitz, dem Buchhändler am Markt, einkaufte, aber nicht oft. Nur ausnahmsweise zu Weihnachten oder vor dem Urlaub. Obwohl er fast hundert Bücher im Jahr las, bestand seine eigene Bibliothek Anfang 2010 aus nicht mehr als ungefähr 250 Exemplaren.
Dagegen näherte sich die Zahl der schwarzen Notizhefte und der vollgeschriebenen Seiten dem Unendlichen. Die Hefte wurden sowohl in Kartons aufbewahrt als auch in Stapeln im Bücherregal, das über zweieinhalb Wände im Wohnzimmer lief. Ältere Jahrgänge lagen im Flur und im Kellerverschlag. Und das meiste war vollgeschrieben; seit 2004 auf dem Computer, trotzdem war die alte Facit Privat noch in Gebrauch. Wenn es einmal abgeschrieben war, las er es nie wieder, lochte die Seiten und sammelte sie in Ordnern, sorgfältig mit der Jahreszahl auf dem Rücken beschriftet. Nichts sonst, nur die Entstehungszeit: April 1974 – November 1975. Dezember 1980 – Februar 1982. Juni 2000 – Oktober 2001. Und so weiter. Gut ein Jahr, gut 300 Seiten in jedem Ordner, er blieb im Rhythmus. Wort wurde auf Wort gelegt, Seite auf Seite, Jahr auf Jahr. Niemand las das Geschriebene, niemals.
Einmal, bei einer Gelegenheit, schickte er eine Novelle an das Literaturmagazin von Bonniers. Sie trug den Titel: »Junge Frauen kaufen rote Schuhe«. Er benutzte das Pseudonym Hjalmar Dagerberg, die Novelle wurde nie gedruckt. Zumindest nicht in den vier Jahren, in denen er die Sache in der Zeitschriftenabteilung der Stadtbibliothek kontrollierte. Er bekam auch nie das Manuskript zurück, aber er hatte ja auch keinen Absender angegeben.
Bis 1984 besaß er einen funktionstüchtigen Fernsehapparat, doch als die Bildröhre an einem saukalten Januarabend durchbrannte, schaffte er sich keinen neuen an. Es wurde ja meistens doch nur Mist gezeigt, und eine Verbesserung schien nicht in Sicht zu sein. So war es nun einmal.
Zwei weitere Ereignisse in Lars Gustav Seléns nach außen sichtbarem Leben verdienen es, erwähnt zu werden, bevor wir im Sommer und Herbst 2010 ankommen. Das erste ist sein missglückter Versuch, sich im Mai 1973 das Leben zu nehmen, auch wenn ein Selbstmordversuch eher ins Innere als ins Äußere gehört. Es geschah am fünften Jahrestag des Abends in Carlas Zimmer, ein regenfeuchter und zweifellos düsterer Abend, obwohl doch Frühling und Frühsommer in den Startlöchern hätten stehen sollen. Nachdem er um sieben Uhr seine Arbeit beendet hatte, machte er einen Spaziergang zur Badhusgatan, blieb dort eine Weile gegen die noch nicht ausgeschlagene Linde gelehnt stehen und schaute zu ihrem Fenster hinauf. Es war wie immer dunkel da drinnen, ihre Mutter war ausgezogen, und seit letztem Jahr wurde die Wohnung von Leuten namens Bogren bewohnt. Nach allem zu urteilen wurde Carlas altes Zimmer nur selten benutzt, es war dort nie ein Zeichen von Leben zu sehen. Und ausgerechnet an diesem Abend merkte Lars Gustav, dass es ihm schwerfiel, die Erinnerungsbilder aufzurufen, das war ungewöhnlich, normalerweise stand er mindestens zweimal im Monat da, rauchte eine Zigarette, und wenn er die Augen halb schloss und seinen Blick sozusagen nach innen richtete, konnte er meistens problemlos zurück in dieses Zimmer und diese Stunden wandern. Ohne die geringste Anstrengung – ihre Lippen, ihr Körper, ihre Hand über seinem Penis und all das –, doch als jetzt die Erinnerungsbilder ausblieben, wurde er von einem Gefühl unsäglicher Leere überschwemmt. Er dachte, vielleicht wollte sie sich zurückziehen, vielleicht wollte sie ihn für immer verlassen und in den kalten, hoffnungslosen Gefilden des Todes für immer verschwinden, und sicher waren es diese düsteren Gedanken, die ihn dazu brachten, später am Abend alles, was er in seinem Apothekenschrank fand, in sich hineinzuschütten.
Das war alles Mögliche, und er spülte es mit einem halben Wasserglas Whisky hinunter. Das Ergebnis war jedoch nicht das gewünschte. Stattdessen ereilten ihn Erbrechen und Magenkrämpfe, die so
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