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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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wenn ich weg bin, dann halten wir per Brief Kontakt.«
    »Ich dachte, die lesen alles?«
    »Natürlich tun sie das. Aber gegen einen Briefwechsel, der davon handelt, dass du aus politischen Gründen nach Prag ziehen willst, haben sie absolut nichts.«
    Ich nickte und erklärte, es verstanden zu haben. Sie wiederholte, dass ich mir ihren Vorschlag noch einmal gründlich überlegen sollte. Dann versicherten wir uns erneut und aus tiefstem Herzen, dass wir einander liebten, und kurze Zeit später trennten wir uns.
    Ja, ungefähr so war der Stand der Dinge im Oktober 1971, und nachdem sie abgereist war, fing ich sofort an, ihr zu schreiben. Lange Briefe, die nur davon handelten, wie viel ich von ihr hielt und wie sehr ich mich darauf freute, nach Prag zu kommen und sie zu heiraten. Eine Familie zu bilden und den Rest meiner Tage und Nächte in der besten aller Gesellschaften zu leben.
    Bis Jahresende kam nicht eine einzige Antwort, und ein paar Tage vor Weihnachten ging ich auf eine Party, die meine alten Spiffer in Camden Town gaben, trank größere Mengen an Wein, Whisky und Bier und traf eine junge Frau, die Deborah hieß.

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    D ie innere Landschaft.
    Irgendwann zu Beginn seiner Lektüre stieß Lars Gustav Selén auf die amerikanische Autorin Margaret Loomis Kerran; er las mehrere Bücher von ihr, und es waren besonders ein paar Zeilen in ihrem Roman Die Einsamkeit überwinden , die sich in seinem Gedächtnis einbrannten.
    In den ersten zwanzig Jahren seines Lebens traf der Baron Hunderte von Menschen und lernte nichts von ihnen. Dann begann er Bücher zu lesen, und bald verstand er alles.
    Er kehrte oft zu dieser Passage zurück. Drehte und wendete ihre Bedeutung, als verberge sie trotz ihrer scheinbaren Eindeutigkeit noch andere Seiten. Dass man – beispielsweise in schwachen Stunden – ihrer Wahrheit nicht vertrauen konnte. Loomis Kerrans Texte trugen oft eine Art Zweideutigkeit in sich, wie er bemerkt hatte, und die Dinge waren nicht immer die, die sie zu sein schienen.
    Doch diese schwachen Stunden des Zweifels verebbten im Laufe der Jahre, wie Lars Gustav zu seiner Freude konstatieren konnte. Wenn er die Figuren in den großen Romanen verglich – eine Anna Karenina oder einen Settembrini oder einen Gösta Berling – mit Alexandersson, dem jungen Lindegren und Romkowski bei Lindegrens Taxi GmbH, dann war es ja ganz offensichtlich, dass Letztere den Kürzeren zogen. Lars Gustav Selén konnte im Namen der Ehrlichkeit schwören, dass er nie auch nur das Geringste von einem seiner Fahrerkollegen gelernt hatte. Und von seinem Bruder oder seinen Eltern auch nicht; wobei natürlich sein Vater Teodor wie ein Fragezeichen und eine ungeklärte Frage in seinem Kopf auftauchte, aber ihn auf eine Ebene mit den großen Spitzbuben der Literatur zu stellen, einem Fagin, einem Markurell oder gewisse Pettersson & Bendel, nein, das verbot sich von selbst. Die Psychologie des Menschen, seiner Bedingungen und Beweggründe, konnte in der Welt der Bücher studiert und beobachtet werden, Parallelen gab es wahrscheinlich auch in der sogenannten Wirklichkeit, aber in verwässerter, stark verdünnter Form. Das Wichtige, das wirklich Wichtige im Leben, lag so tief verborgen unter dem Alltag, unter der Tristesse, der Trägheit und dem Trivialen, dass es Ewigkeiten dauern würde, es zu fassen zu bekommen. Und das besonders für jemand so Introvertierten wie Lars Gustav Selén.
    Einem einzigen Menschen aus wahrem Fleisch und Blut war er in seinem Leben begegnet, und sie war ihm in einer U-BahnStation in London weggestorben. So konnte zusammengefasst seine Wanderung auf der Erde beschrieben werden, das äußere Schicksal, und wenn es überhaupt möglich wäre, eine gewisse Süße herauszupressen, dann musste er zu ihr in die innere Landschaft fliehen, so gut es ging. Einfach ausgedrückt. Und das war es absolut nicht, aber nicht einmal Teodor Selén hatte behauptet, dass das Leben einfach war.
    Jedenfalls las Lars Gustav Selén. Schrieb und las.
    Je älter er wurde – besonders seit dem März 2006, als er keine Arbeit mehr hatte, zu der er gehen musste –, umso intensiver vertiefte er sich in seinen großen Londonroman. Er hatte sich schon früh für zehn Personen sowie eine unbekannte Größe entschieden; warum er sich ausgerechnet für zehn plus eins entschied, hatte nichts mit den Lehren zu tun, die er aus der Welt der Bücher zog, es war eine mathematische, intuitive Entscheidung, vielleicht auch eine ästhetische, und sie war nicht

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