Himmel über London
schwer zu fällen gewesen. Länger arbeitete er dagegen an der Frage bezüglich der Anwesenheit des Autors im Werk, auf welche Art und Weise er sich selbst in den Roman hineinschreiben sollte, er versuchte die eine oder andere Variante, und zum Schluss musste er einsehen, dass es nicht möglich war, dem Schöpfer einen einzigen Charakter zuzuschreiben. Einerseits erschien es notwendig, dass er unmaskiert und authentisch herüberkam, besonders wenn sich das Finale näherte, andererseits – und das war mindestens genauso wichtig – sollten gewisse Seiten seiner Identität mindestens einer anderen Person auf den Leib geschrieben werden, möglichst jemandem, dem das Leben ein wenig übel mitgespielt hatte, der aber durch die Fügung des Schicksals und ein reines Herz gute Chancen hatte, die Gunst des wohlgesonnenen Lesers zu gewinnen.
Das Problem mit Carla Carlgren war von ähnlicher Art. Natürlich musste sich um so eine Frau ganz viel drehen, sonst wäre ja das ganze Vorhaben sinnlos. Ideal wäre es gewesen, wenn das Buch in einer Art Liebeserklärung an sie an sich mündete, doch das war nicht ganz unkompliziert. Auch der Zeitaspekt bereitete ihm Kummer. Das Komplott sollte auf mindestens zwei weit voneinander getrennten Zeitebenen spielen, mindestens dreißig, vierzig Jahre sollten dazwischenliegen, doch es widerstrebte ihm, Carla als Frau mittleren Alters oder sogar als ältere Frau zu beschreiben. Folglich, doch erst nach mehreren Monaten des Grübelns, beschloss er, sie zu spalten. Forever young, dachte er, wenn man in jungen Jahren gestorben ist, dann ist einem das große Rätsel des Alterns entgangen, und da er – wenn er ehrlich sein sollte – eigentlich nicht mehr über ihren eigentlichen Charakter wusste, wenn es denn so eine Art von Charakter überhaupt gab?, als das, was er in diesem Vorsommer erfahren hatte, als er glaubte, er lebte, so hatte er das Gefühl, sie zu erfinden. Erfinden.
Vielleicht wurde sie auch von der Erzählung selbst erfunden. Das wäre in dem Fall eine üblicherweise vorkommende Form der Jungfrauengeburt in der Literatur, das war ihm schon klar, vielleicht der innerste Kern der Fiktion, wie gern man auch eine nüchternere Betrachtungsweise benutzt hätte. Der Erzähler lenkt den Leser, die Erzählung lenkt den Erzähler. Und irgendwann in diesem Stadium der Entwicklung spürte er, dass alles Gefahr lief, auseinanderzubrechen.
Mit der Zeit wurden seine Routinen immer strikter, wenn er am Londonroman arbeitete. Besonders was die Spieleröffnung betraf, die Spieleröffnung an jedem neuen Tag. Nach dem Frühstück ließ er sich auf seinem Schreibtischstuhl nieder, holte das Manuskript aus der obersten rechten Schublade des Akten schränkchens, legte es mit einer gewissen Feierlichkeit vor sich, zündete eine Kerze an und blieb dann fünf, zehn Minuten erst einmal still sitzen, während er die drei Objekte vor sich auf dem Fensterbrett betrachtete. Das Klassenfoto, auf dem ihre Hand ihn an einigen Tagen deutlich zu berühren schien, an anderen Tagen nicht. Der Zeitungsausschnitt. Die rückwärtsgehende Uhr. Ließ alles auf sich einwirken. Fiel zurück in der Zeit. Verließ die Wirklichkeit, manchmal überkam ihn das Gefühl, als wünschte er sie zum Teufel.
Nach diesem Akt der Konzentration blies er die Kerze aus und schaltete stattdessen die Schreibtischlampe ein. Suchte für diesen Tag einen Stift aus, normalerweise einen schwarzen Kramer von 0,7 Millimeter, und fing an. Es gab keine Abkürzungen, die gibt es für keinen Schriftsteller und auch für Lars Gustav Selén nicht: Jedes Wort, jede Formulierung, jedes Bild und jeder Buchstabe müssen gedacht und abgewogen werden, gutgeheißen oder verworfen. Auf lange Sicht gesehen konnten die Schreibperioden von einem Tag zum anderen variieren, aber er arbeitete selten weniger als acht Stunden, inklusive einer Mittagspause mit einem Teller Dosensuppe, zwei Brotscheiben, eine mit Käse, eine mit Streichkaviar, einer Banane, einer Tasse Kaffee sowie einem Nickerchen von einer Viertelstunde. Die späten Nachmittags- und die frühen Abendstunden benutzte er am liebsten für die Reinschrift auf der Schreibmaschine oder – ab Mai 2004 – auf dem Computer. Druckte dann mit Hilfe seines einfachen Druckers – seit demselben Monat und Jahr – die Seiten aus, las sie noch einmal und machte Korrekturen mit dem Bleistift, Staedtler 2B, von denen er zwei Dutzend bereits Ende der Siebziger gekauft hatte, als Mossbergs Buch&Papier im Stenebägen
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