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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Konkurs ging und alles billig verkaufte. Es kam vor, dass er beim nochmaligen Lesen zu der Einsicht kam, dass die Arbeit des Tages nicht seinen Ansprüchen genügte, oder zumindest Teile der Arbeit, und oft fühlte er sich genötigt, alles zu verwerfen. Mindestens einmal im Vierteljahr las er das bereits Geschriebene noch einmal ganz genau durch, das heißt, das gesamte Manuskript, und auch dabei kam es vor, dass Seiten – oder ganze Kapitel – vor seinem kritischen Auge keine Gnade fanden und umgearbeitet werden mussten.
    Aber trotzdem ging es voran. Während eines Besuchs in Ö. fand er das wichtige gelbe Notizbuch, und oft war er verwundert, wie einfach es lief; wie scheinbar mühelos er sich in den Kopf von Menschen begeben konnte, ihre Motive, Beweggründe und Fehlschläge konstruieren konnte. Psychologisieren und karikieren, dem Ernst die Federführung überlassen oder sich vollkommen neutral verhalten, ganz wie die Erzählung es erforderte. Denn die Erzählung geht dem Erzähler voraus, und dass er fast ein Werkzeug von etwas anderem, etwas Größerem war, dieses Gefühl hatte er oft sehr deutlich, doch er begriff, dass es keinen Grund gab, sich darüber zu beklagen, dass man sich ihm nur demütig zu beugen hatte. Er rekonstruierte eine verlorene Partitur, baute ein Plumpsklo wieder auf, in das der Blitz eingeschlagen war, mehr – oder weniger – war es nicht. Er gab es auf, das perfekte Anagramm zu finden, begnügte sich mit Steven G. Russell, was ja trotz allem ziemlich nahelag – und Richard Mulvany-Richards für den krankhaft eifersüchtigen, halbtags beschäftigten Kollegen Fredriksson-Lind –, der, nachdem er von seiner Ehefrau Mitte der Neunzigerjahre betrogen worden war, mehrere Jahre damit zubrachte, ihren neuen Partner zu stellen; zumindest saß er im Taxiunterstand am Bahnhof und redete ununterbrochen über seine immer ausgeklügelteren Rachepläne. Als Roine Silverström, wie sein Nachfolger hieß, Anfang 2001 erfroren in einem Graben unterhalb des Friedhofs in K. gefunden wurde, gab es allerlei Diskussionen und Spekulationen darüber, wie er dorthin gelangt sein mochte. Soweit Lars Gustav Selén verstand, wurde aber nie eine Untersuchung eingeleitet, und Fredriksson-Lind hatte zu diesem Zeitpunkt vom Taxifahrer zum Bäcker umgesattelt und zwar bei Amadeus Tillgrens »Brot und anderer Plunder« in der Nyhemsgatan eingestellt worden. Doch das ist wirklich nur eine Randbemerkung.
    Es war auch in diesem Jahr – 2001 –, dass sich für Lars Gustav Selén wahrscheinlich zum letzten Mal die Möglichkeit bot, mit einer Frau zu schlafen.
    Die Möglichkeit hieß Ragna Mosse, sie war, ein paar Jahre, nachdem die Kalmanders ausgezogen waren, in die Wohnung gegenüber in der Regnvädersgatan gezogen. Es gab nur zwei Wohnungen auf jedem Stockwerk, und Ragna und Lars Gustav pflegten sich zu grüßen, wenn sie sich begegneten, im Treppenhaus oder in der Waschküche. Aber mehr war da nicht, weiß Gott nicht.
    Nicht bis zu jenem Abend des 11. September. Es war also der Tag, an dem zwei Flugzeuge in die Wolkenkratzer im südlichen Manhattan in New York flogen und die Welt mit einer neuen Zeitrechnung begann. Kurz vor zehn Uhr klingelte es an der Tür. Lars Gustav Selén lag unter einer Decke auf dem Sofa und las einen Roman des deutschen Schriftstellers Heinrich Böll. Gruppenbild mit Dame. Da es so gut wie nie vorkam, dass es an seiner Tür klingelte, konnte er das Geräusch zunächst nicht identifizieren. Erst beim zweiten Klingeln kam er auf die Beine und ging, um zu öffnen.
    Sie trug einen himmelblauen Morgenmantel und Wollsocken. Ihr dunkles Haar war nass und frisch gekämmt. Die Augen waren etwas gerötet.
    »Ich habe solche Angst«, sagte sie. »Den ganzen Abend lang habe ich diese schrecklichen Bilder gesehen. Ich glaube, wir werden bald einen Krieg haben.«
    »Ja, das ist schrecklich«, stimmte ihr Lars Gustav zu, der auch ein paar Stunden am Nachmittag damit verbracht hatte, den Ereignissen zu folgen. Aber am Radio, einen Fernseher hatte er seit vielen Jahren nicht mehr.
    »Könnte ich nicht bei dir schlafen?«, fuhr Ragna Mosse fort und starrte ihn mit feuchtem Blick an. »In so einer Nacht sollte man nicht allein sein.«
    Einen Moment lang dachte er nach. Dann schob er ihre Hand von seinem Arm, auf den sie sie gelegt hatte, und sagte ganz einfach:
    »Das halte ich für keine gute Idee.«
    Schloss die Tür, kehrte zum Sofa zurück und nahm Böll dort wieder auf, wo er ihn verlassen hatte.
    Ein

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