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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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die ganzen neunzig Minuten über, die ich schlief, das Gefühl hatte ich. Wobei verkehren das falsche Wort ist, da unsere Identitäten in gleicher Weise wie beim letzten Mal, als wir aufeinanderstießen, ineinanderflossen: er war ich, und ich war er, es war auch dieses Mal ein mindestens genauso unangenehmes Erlebnis wie beim letzten Mal, und ich glaube, es erschreckte mich noch mehr. Vielleicht weil er nähergekommen zu sein schien. Dieser Lars Gustav Selén, dessen Namen ich immer noch nicht aussprechen konnte, er war also identisch mit mir selbst, der große Unterschied dieses Mal war, dass ich, das heißt er sich in London befand. Hier und jetzt, wenn ich mich nicht irre. Er/ich verbrachte beispielsweise eine Weile im Bad im Porchester Centre, er/ich wanderte durch den leisen Nieselregen die Talbot Road entlang und schien nach dieser Wohnung in der Nähe der St. Stephen’s Church zu suchen, in der ich vor mehr als dreißig Jahren eine Nacht mit Carla verbracht hatte, und kurze Zeit später befanden wir uns im Covent Garden. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich wir schreibe, aber plötzlich gab es Momente, in denen ich trotz allem das Gefühl hatte, dass wir getrennt waren. Auf jeden Fall standen wir auf einem vollkommen verlassenen Bahnsteig, es war fast dunkel, nichts geschah, der Geruch nach Kohlenfeuerung war ungewöhnlich intensiv, und das leise Geräusch der Ventilation kam und ging. Als sich endlich ein Zug näherte, man konnte den bekannten Luftzug spüren, wurde ich plötzlich eines jungen Pärchens gewahr, das auf uns zukam, sie gingen Arm in Arm, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, es wären Carla und ich selbst vor langer Zeit, doch ich gab mir alle Mühe, diese bizarre Einbildung beiseitezuschieben. Sie schienen sich ein Stück über dem Boden schwebend vorwärtszubewegen, er und auch sie, doch als der Zug fast eingefahren war, aber noch nicht am Bahnsteig stand, nahmen sie dennoch Anlauf und sprangen auf das Gleis. Sie wurden augenblicklich zermalmt, ihre Knochen, ihre Muskeln, ihre Schädel und alles wurde zu einem einzigen roten Brei, und jetzt war ich allein; ich war einzig und allein der andere, und obwohl es außer mir nur noch folgende Größen gab: das unterirdische Gewölbe mit dem Bahnsteig und dem Gleis, den stillstehenden leeren Zug, die beiden zermalmten Jugendlichen unten auf dem Gleis (die also unter keinen Umständen identisch mit Leonard und Carla sein konnten und von denen ich nichts mehr entdecken konnte) sowie meine eigene Person, im Augenblick in Gestalt eines anderen Leonard, wie mir schien – so konnte ich dennoch spüren, wie sich zwei kräftige Hände von hinten um meinen Hals legten und versuchten mich zu erwürgen.
    Wahrscheinlich war das der Moment, in dem ich aufwachte, ich hatte offenbar Atemprobleme, und ich erkannte die Frau mittleren Alters nicht wieder, die über mich gebeugt stand und mich mit aufgerissenen, erschrockenen Augen betrachtete.
    Aber ich hatte gelernt. Ich wusste, dass ich sie eigentlich kennen müsste, und hielt meine Zunge im Zaum. Ja, ich müsste ihren Namen kennen, ihre Lebensgeschichte und wissen, welche Rolle sie in meinem Leben spielte – aber wie sollte das gehen, wenn ich nicht einmal wusste, wie ich selbst hieß?
    Oder wo ich mich befand. Oder welches Jahr wir hatten.
    Aber vielleicht war ich ja in der Hölle gelandet. Und dort gibt es keine Jahre.
    Trotzdem kann ich mich an den Traum und das Erwachen erinnern. Und an dieses überwältigende, betäubende und lähmende Gefühl steriler Leere.
    »Ich bin’s, Maud«, sagte die Frau. »Erkennst du mich?«
    »Natürlich«, sagte ich. »Du bist Maud.«
    Und Stück für Stück füllte sich die Leere. Verkehrsgeräusche draußen von der Straße, die fallenden Linien in ihrem fülligen Gesicht und diverse Erinnerungen. Ich erklärte ihr, dass ich noch eine Viertelstunde Ruhe brauchte.
    Um halb vier wachte ich erneut auf.
    Ich hatte keine Schmerzen und war ganz klar im Kopf. Maud saß wieder am Tisch.
    »Hast du meine Nachricht gesehen?«, fragte ich.
    »Sechs Uhr?«, fragte sie. »Warum müssen wir so früh los? Ich dachte, der Tisch wäre für acht Uhr reserviert?«
    »Ich muss mich noch um einiges kümmern«, erklärte ich. »Ist es für dich ein Problem, um sechs fertig zu sein?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Sonst könntest du später nachkommen, das geht auch. Aber nicht später als acht. Ich fahre auf jeden Fall wie geplant los.«
    »Ich komme mit dir mit«, sagte sie.

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