Himmel über London
enden würde.
Sie wusste nicht, was sie von Leonard halten sollte. Während sie langsam die ziemlich menschenleeren Bürgersteige entlangging, versuchte sie darüber nachzudenken, wie es früher gewesen war, inwieweit sie sich in ihrem früheren gemeinsamen Leben eingebildet hatte, ihn ziemlich gut zu kennen. Von vollständiger Kontrolle war nie die Rede gewesen, und diese war auch gar nicht wünschenswert – zu keiner Zeit während der zwanzig Jahre –, doch diese Tage hier in London beinhalteten noch etwas anderes: eine Verfremdung. Konnte man es so nennen?, fragte sie sich. Verfremdung? Warum nicht? So ein Gefühl war es zumindest, als wäre er ein Fremder für sie geworden, ein Unbekannter, der plötzlich – oder besser gesagt, nach und nach – als jemand vor ihr stand, den sie nicht zu fassen bekam. Den sie nicht verstand; nicht als Therapeutin und noch weniger als Mensch.
Vielleicht war er ganz einfach verrückt? Vielleicht hatten seine Krankheit und all die Medikamente dazu geführt, dass etwas in seinem Kopf kaputtgegangen war, so dass es sich gar nicht lohnte, ihn als zurechnungsfähig zu betrachten. Überhaupt zu versuchen, das Normale und das Rationale zu finden. Dieses Gerede davon, dass er ein anderer war, zum Beispiel. Dass er gar nicht Leonard Vermin hieß und dass er sie nicht wiedererkannt hatte. Wie sollte man das interpretieren? Und dieses alte Notizbuch mit dem schmutzig gelben Umschlag, in dem er ausdauernd und mit höchster Konzentration jeden Tag las und das er so sorgfältig vor ihren Blicken versteckte? Was enthielt es eigentlich? Was waren das für Aufzeichnungen?
Und dann dass er nackt da draußen auf dem Balkon gelegen hatte. Hätte sie vielleicht doch einen Krankenwagen rufen sollen? Und ihn einweisen lassen? Jetzt im Nachhinein erschien es ihr ganz gut, dass sie nicht ganz nüchtern gewesen war, als sie ihn fand. Wäre sie es gewesen, sie hätte sicher einen Krankenwagen gerufen.
Und sicher hätte sie sich trotz allem für diese Alternative entschieden – professionelle Hilfe zu suchen –, wenn da nicht diese Feier gewesen wäre. Das war der Knackpunkt, das wusste sie. Leonard musste sein Geburtstagsessen wie geplant bekommen; wenn es nicht so kam, wie er sich das gedacht hatte, wenn sie ihm und diesem Arrangement Knüppel zwischen die Beine werfen würde, dann … dann waren die Konsequenzen einfach nicht zu überblicken. Er würde ihr so etwas niemals verzeihen, er würde noch verrückter werden, und das konnte sehr wohl in reinster Erniedrigung enden. Nein, sie hatte jetzt so lange ausgehalten, nun würde sie auch die letzten Stunden aushalten. Da gab es kein Wenn und Aber, nicht einmal in ihrem eigenen Kopf.
Sie bog um eine Ecke und kam auf eine Straße, die Pottery Lane hieß. Blieb an einem Zeitungskiosk stehen und kaufte eine Schachtel Pfefferminzpastillen – irgendwas stimmte an diesem Tag nicht mit ihrem Atem –, und dann ging sie dazu über, darüber nachzudenken, wie es mit der physischen Seite von Leonard stand. Wirklich. Er hatte am Frühstückstisch müder als üblich ausgesehen, das war ihr nicht entgangen, trotz ihrer eigenen Vibrationen. Seine Gesichtsfarbe, sein schwerer Atem, seine zitternden Hände, das waren ja wohl deutliche Zeichen? Zeichen dafür, dass es nicht mehr lange dauerte.
Ich sollte mich besser um ihn kümmern, dachte sie in einem heftigen Anflug von schlechtem Gewissen. Auch wenn er ein Fremder für mich geworden ist, so ist es doch meine Pflicht.
Es ist kaum zu begreifen, warum es so schwer zu sein scheint. Was gab es in ihr, was so einen Widerstand bot? Hätte sie einen Gott gehabt, sie hätte ihn darum gebeten, die letzten drei Tage aus ihrem Leben zu löschen. Doch derartige Abmachungen waren nicht zulässig, mit keiner Art von Machthaber und unter keinen Voraussetzungen.
Als sie sich in einem Café in der Holland Park Avenue an einen Tisch setzte, war es Viertel nach zwölf geworden, nicht einmal mehr acht Stunden, bis sie in diesem Lokal an der Great Portland Street sitzen sollten, und was dort dann wohl geschah, daran mochte sie gar nicht denken. Doch das war das Nadelöhr, durch das sie hindurchmussten.
Und er lag im Sterben. Was immer das bedeuten mochte, zumindest war es ein mildernder Umstand.
Sie bestellte sich einen doppelten Espresso und ein großes Glas Wasser. Schlug eine Zeitung auf, die jemand auf dem Tisch hatte liegen lassen. Während sie auf den Kaffee wartete, las sie eine Zusammenfassung über die armen Menschen,
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