Himmel über London
die dem immer noch wütenden Uhrenmörder zum Opfer gefallen waren. »The Watch Killer«. Laut diesem Artikel war die Anzahl der Opfer inzwischen vermutlich auf sieben gestiegen – eine Frauenleiche war durch das nächtliche Gewitter aus dem trüben Wasser der Themse an die Oberfläche geschwemmt worden –, und die Polizei hatte keine Spur. Maud Miller seufzte und faltete die Zeitung wieder zusammen. Diese Stadt ist verflucht, dachte sie. Eine graugemusterte Taube kam angeflattert und setzte sich auf ihren Tisch.
Zurück im Hotel hatten sich die schlimmsten Krämpfe in ihrem Körper gelegt, und Leonard war ausgegangen. Sie nahm an, dass er sich bei diesem Notar befand, von dem er gestern und heute Morgen während des Frühstücks gesprochen hatte. Auf ihrem Bett lag eine handgeschriebene Mitteilung:
Habe einen Wagen für sechs Uhr bestellt. Sieh bitte zu, dass du dann angezogen und fertig angemalt bist. L.
Fertig angemalt?, dachte sie. Um sechs Uhr? Das Essen sollte um acht Uhr beginnen. Eine Fahrt mit dem Taxi zur Great Portland Street dauerte allerhöchstens fünfzehn Minuten, das hatte sie auf dem Stadtplan überprüft. Sie würden zwei Stunden zu früh dort sein.
Aber warum? Was führte er im Schilde?
Sie beschloss, den Nachmittag im Zimmer zu bleiben. Ihn genau zu beobachten, wenn er zurückkam, und nichts dem Zufall zu überlassen, was auch immer man in einer Situation wie dieser damit meinen konnte. Habe ich denen nicht bereits alles überlassen?, dachte sie. Kräften außerhalb meiner Reichweite?
Sie spürte, wie eine diffuse Angst dabei war, sie erneut zu packen. Fühlte außerdem, dass es von größter Wichtigkeit war, mit Irina und Gregorius Kontakt aufzunehmen – um sich zu vergewissern, dass ihnen nichts passiert war und dass sie auf jeden Fall dafür sorgten, rechzeitig im Le Barquante zu sein.
Ihnen nichts passiert? , dachte sie. Warum sollte ihnen etwas passieren? Ich bin dabei, die Kontrolle zu verlieren.
Sie begann mit ihrer Tochter. Keine Antwort.
Versuchte es dann bei ihrem Sohn. Er antwortete nach sieben, acht Freizeichen. Zumindest glaubte Maud Miller, dass es ihr Sohn war. Sie erkannte zwar seine Stimme nicht, glaubte jedoch nicht, dass sie sich verwählt hatte.
Wer immer es auch war, so erklärte er, dass er schlafen müsse, und legte dann den Hörer auf.
Warum ist es nur so?, dachte sie und fing in ihrer Einsamkeit an zu weinen.
49
Leonard
S iebzig Jahre heute. So weit bin ich zumindest gekommen. Möge es noch bis heute Abend anhalten.
Prendergast hat seine Kanzlei immer noch an derselben Adresse. Sutherland Place 21, während meiner letzten Jahre in London wohnte ich schräg gegenüber, Nummer 52. Ich glaube, wir trafen uns das erste Mal im Pub The Cock and Bottle unten in der Artesian Road. Gleich um die Ecke, aber vielleicht erinnere ich mich auch falsch. Vielleicht haben wir uns auf irgendeiner Party kennen gelernt.
Der Spaziergang von der Chepstow Road dauerte eine halbe Stunde, obwohl es sich kaum um mehr als vierhundert Meter gehandelt haben kann. Heute Morgen geht es mir schlechter als je zuvor, aber was soll’s, denke ich, diese letzte Strecke werde ich ja wohl auch noch zurücklegen. Diese letztendlichen, stolpernden Schritte.
Heute Morgen habe ich auf die Medikamente verzichtet. Vielleicht war das ein Fehler, aber ich wollte klar im Kopf sein, wenn ich mit Prendergast rede. Dafür musste ich die Schmerzen ertragen, sie waren kaum auszuhalten, doch sobald ich durch die Tür war, bestand mein Notar darauf, dass wir einen Whisky miteinander tranken, und vielleicht war es genau das, was ich brauchte. Zumindest in dem Moment.
»Leonard, wie steht es eigentlich um dich?«, wollte er wissen. »Ich habe nicht gedacht, dass es so schlimm ist.«
Ich dankte ihm für diese wärmenden Worte und erinnerte ihn daran, dass ich nicht hier war, um Höflichkeitsfloskeln auszutauschen. Bat ihn, die Papiere herauszuholen, damit wir ohne Verzug anfangen konnten.
Prendergast ist mindestens fünf Jahre älter als ich, aber ich fand, er sah aus wie die Gesundheit in Person. Abgesehen natürlich von dem schwarzen Lappen, der über seinem linken Auge saß, aber den trug er schon, als wir uns in den Siebzigern kennen lernten. Ihm wurde das Auge von einem Rivalen ausgestochen, als er zwanzig war; die betreffende Frau wurde ein paar Jahre später seine Ehefrau und gebar ihm vier Töchter, bevor sie ihn für einen Stierkämpfer aus Cordoba verließ. Ich habe diese offensichtlich äußerst
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