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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Foyle’s bis Januar 1973 fort, nicht, weil ich noch das magere Gehalt brauchte, sondern um diesen festen Punkt, den eine Arbeit ausmacht, zu behalten. Ich las viel, das wurde immer selbstverständlicher, je länger ich von morgens bis abends mit Büchern und Bücherkäufern zu tun hatte. Ich fühlte mich diesem Swinging London immer noch – und immer mehr – entfremdet, dieser verflachten Popkultur und dieser intellektuellen Dekadenz, und mit meinen alten Spiffern, Christopher, Mary und Fjodor, hatte ich immer weniger Kontakt. Ich ging neuerdings in Konzerte mit klassischer Musik. Ich versuchte mich für Kunst zu interessieren. Ein Nachbar nahm mich ein paar Mal mit hinaus nach Twickenham und sorgte dafür, dass ich ein Auge für Rugby bekam, ein Sport, den ich bis dahin nie zu schätzen gelernt hatte, für den ich mich aber mit der Zeit immer mehr begeisterte. Deborah hatte ein paar Studienkollegen, die ich bei fünf oder sechs Gelegenheiten traf, doch als es mit ihr vorbei war, hielt ich den Kontakt zu ihnen nicht weiter aufrecht. Ich erinnere mich, dass ich einen von ihnen ein paar Jahre später in einer Fernsehsendung sah, er hieß Felix Mender und war von der französischen Sicherheitspolizei im Zusammenhang mit irgendeiner Art von Coup im Louvre in Paris angeschossen worden.
    Aber nun zu Carla. Genug mit allem anderen.
    Das erste Lebenszeichen von ihr, nachdem sie zurück nach Prag gefahren war, kam im März 1973. Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits achtzehn Monate gewartet, ich hatte im Großen und Ganzen die Hoffnung aufgegeben, doch während der ersten acht, zehn Monate hatte ich ein halbes Dutzend Briefe an die Adresse geschickt, die sie mir gegeben hatte. Alle mit dem durchsichtigen Inhalt, den sie mir mehr oder weniger diktiert hatte und der für die gierigen Augen der tschechoslowakischen Zensurbehörden gedacht war.
    Ich schrieb, dass ich sie liebte. Dass es mir in dem kapitalistischen, sündigen London überhaupt nicht gefiel. Dass ich mich darauf freute, zu ihr fahren zu können. Dass ich täglich Marx’ und Lenins Schriften studierte und subversive sozialistische Aktivitäten im Allgemeinen betrieb – in der korrupten, moralisch bankrotten westlichen Welt. Dass ich sie heiraten und in das sozialistische Paradies ziehen wollte und es kaum erwarten konnte.
    Und Ähnliches. Ihre erste Antwort kam also anderthalb Jahre, nachdem ich von ihr getrennt worden war, ich erinnere mich, dass es ein Montag war. Der Brief war in Gütersloh in Westdeutschland abgeschickt worden, ich nahm an, dass ein guter Freund ihn herausgeschmuggelt und dort aufgegeben hatte. Ich habe ihn immer noch und gebe ihn wörtlich wieder.
    Liebster Leonard,
    verzeih mir, dass du warten musstest, ich habe deine beiden Briefe erhalten, konnte aber aus bestimmten Gründen nicht antworten. Ich habe auf die richtige Gelegenheit warten müssen, und die hat sich erst jetzt ergeben, es tut mir leid. Glaube nicht, dass ich nicht versucht hätte, Kontakt zu dir aufzunehmen, aber es war unmöglich. Ganz einfach unmöglich.
    Ich hatte im ersten Jahr nach meiner Rückkehr eine schwere Zeit, aber jetzt leide ich keine Not mehr. Aber ich sehne mich nach dir. Mir ist klar, dass unsere Beziehung in London für deine Seite viel zu wünschen übrig ließ, ich bitte dich dafür um Verzeihung. Wenn irgendetwas daran schuld ist, dann sind es die Umstände; es ist nicht einfach, gegen ein System zu arbeiten, an das man nicht glaubt, und gleichzeitig gezwungen zu sein, mitten darin zu leben. Man muss so viel opfern, und man muss sich einzureden versuchen, dass man auf lange Sicht doch die richtige Wahl getroffen hat und dass das Urteil der Geschichte eines Tages einfach und gerecht ausfallen wird. Wofür es natürlich keine Garantie gibt.
    Aber ich bin auch eine Frau – mit den Bedürfnissen einer Frau, ihren Hoffnungen und Träumen. Es ist nicht möglich, länger zu leugnen, wie viel du mir bedeutet hast und heute noch bedeutest. Du weißt, dass ich andere Männer hatte, aber jetzt habe ich keinen, und es gibt niemanden, der mir so viel bedeutet wie du, Leonard. Nicht einmal ansatzweise. Manchmal, wenn ich nachts wach daliege, stelle ich mir vor, dass du bei mir bist oder dass ich daliege und warte, dass du durch die Tür hereinkommst; das gibt mir ein frustrierendes Gefühl von Lust und Sehnsucht, ich brauche wohl nicht näher ins Detail zu gehen, wie ich damit umgehe, aber ich sehne mich unglaublich nach dir. Sollte es so sein, dass du eine andere Frau

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