Himmel über London
»Natürlich komme ich mit dir mit, Leonard. Hast du Schmerzen?«
»Nein.«
»Müde?«
»Nein. Ich möchte noch ein bisschen lesen. Und wie gesagt, sieh zu, dass du geschminkt und angezogen bist.«
»Ich fühle mich so nervös«, sagte sie. »Was geht hier eigentlich vor, Leonard?«
»Ich bin dabei zu sterben«, antwortete ich nur.
»Bist du sicher, dass es nicht noch etwas anderes ist?«, fragte sie.
»Das ist alles«, versicherte ich ihr.
50
Das gelbe Notizbuch
M eine Beziehung zu Deborah Simmons dauerte vom Dezember 1971 bis zum Mai 1973. Ich war nie verliebt in sie, und da sie mir, gleich nachdem unsere Verbindung beendet war, mitteilte, dass sie die ganze Zeit einen anderen Freund neben mir gehabt hatte, nehme ich an, dass ihre Gefühle für mich auch nicht besonders stark waren. Der Freund hieß Liam und wohnte noch in Aberystwyth, während Deborah sich fern der Heimat befand und Betriebswirtschaft an der London University studierte. So kann das Arrangement vielleicht als ein praktisches Agreement bezeichnet werden.
Sie war rothaarig, etwas mollig und ein liebes Mädchen, ungefähr so möchte ich sie beschreiben. Außerdem lispelte sie ein wenig, und aus irgendeinem Grund gefiel gerade das mir sehr, besonders wenn wir uns liebten, wobei sie gern redete. Ich habe nie eine Frau getroffen, die so viel während des Liebesakts redete wie Deborah Simmons. Manchmal wie ein Rundfunksprecher, der seinen Hörern auch nicht das geringste Detail vorenthalten wollte; nachdem wir miteinander fertig waren, dachte ich, ich hätte sie auf Band aufnehmen sollen. Wir trafen uns ungefähr jeden zweiten Samstag, gingen in den Pub, ins Kino oder beides, und anschließend ins Bett, entweder bei ihr draußen in Westcombe Park oder bei mir an der Craven Terrace – oder ab Sommer 1972: Kildare Gardens. Vorzugsweise schlief sie lieber bei mir, da es mindestens eine Stunde mit dem Zug bis zu ihrer kleinen Einzimmerwohnung war – doch es kam auch mal vor, dass ich da draußen bei ihr im Suburb aufwachte, und es kam vor, dass wir in Greenwich einen Sonntagsspaziergang machten. Sogar mal auf einer Decke saßen und zwischen Hunden, Hippies und Familien mit Kindern picknickten, zumindest einmal, ja, häufiger war es wohl nicht.
Aber wir bildeten uns nie ein, dass es eine Fortsetzung geben würde, und als sie mit ihrem Examen fertig war und nach Aberystwyth zurückkehrte, trennten wir uns ohne irgendwelche Komplikationen.
Ich zog also im Juli 1972 fort von meinen Tauben und meinen Fledermäusen. Der Grund war, dass der Besitzer, ein gewisser Lord Smithers, renovieren wollte, und da gab es keinen Platz mehr, weder für mich noch für die fliegenden Untermieter. Wohin Letztere zogen, weiß ich nicht, ich selbst kaufte mir eine Wohnung einige hundert Meter weiter westlich, an den Kildare Gardens in Bayswater.
Dass ich mir so etwas leisten konnte, lag wiederum daran, dass ich Anfang Mai Frank Langhorne getroffen hatte, und er hatte meinen Anteil an dem Patent für Hyperstatica für den ansehnlichen Kaufpreis von zweihunderttausend Pfund zurückgekauft. Ich war plötzlich ein vermögender Mann, ohne eigentlich auch nur einen Finger gerührt zu haben, doch mir war klar, dass es für die Begüterten dieser Welt ein alltägliches Erlebnis war. Auf jeden Fall kaufte ich eine Wohnung für zwanzigtausend Pfund und investierte den Rest in einige Wohnungen und Medienunternehmen – genau genommen auf Anraten desselben Frank Langhorne –, und ein paar Jahre später, als ich England endgültig verließ, konnte ich feststellen, dass sich der Wert des Ganzen insgesamt so gut wie verdreifacht hatte.
Doch davon sollten meine Aufzeichnungen gar nicht handeln, aber je länger ich dabei bin, umso unsicherer werde ich über mein eigentliches Ziel. Ich will es ja nicht aus den Augen verlieren, aber vielleicht ist es einfach diese Banalität, die Angst vor der Vergänglichkeit, die mich treibt. Andererseits muss man gar nicht nach Ziel und Beweggründen fragen. Alles, was nicht von Carla handelt, erscheint meistens wie eine unnötige Abweichung, es fällt mir schwer, es aufzuzeichnen, aber ein wenig Information über die Jahre, in denen wir uns nicht sahen, ist vielleicht trotz allem vonnöten. Mehr oder weniger täglich stellte ich mir die Frage, ob ich sie jemals wiedersehen würde, aber deshalb war ich nicht unfähig zu handeln. Offenbar gab es in mir eine andere Art von Triebkraft, vielleicht sogar mehrere Arten. Ich setzte meine Arbeit bei
Weitere Kostenlose Bücher