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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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nicht viele Kontakte eingegangen, war nie mit einer Frau zusammen, habe keine Kinder, und ich hege den Verdacht, dass es ziemlich lange dauern wird, bevor überhaupt jemand merkt, dass ich aus meiner Heimatstadt fort bin. Wer sollte das auch sein? Meine Abwesenheit wiegt genauso schwer, wie es meine Anwesenheit tat, so kann man es wohl sagen, aber das ist keine Erkenntnis, die mich schmerzt. Überhaupt nicht, es handelt sich um eine bewusst getroffene Wahl, und so war es die ganze Zeit, und ich weiß ja, dass die meisten Menschen keine tieferen Eindrücke hinterlassen als ich, wenn der Kampf einmal vorbei ist. Es gefällt ihnen natürlich, sich etwas anderes einzubilden – dass sie Spuren hinterlassen, mehr oder weniger unauslöschliche Spuren. Für viele ist es und war es die Lebensluft, die sie jeden Tag ihres bewussten Lebens eingeatmet haben, was aber natürlich nicht bedeutet, dass es wahr sein muss oder dass ihre Anstrengungen irgendeinen Sinn haben müssen.
    Der Abdruck, den ich zurücklassen will, das ist mein Roman. Ich weiß ja nicht, ob mir dieses Ansinnen gelingt, ob das Buch jemals gedruckt werden wird – doch zu dem Zeitpunkt, an dem ich das erfahren könnte, werde ich nicht mehr sein, also entbehrt die Frage jeder praktischen Bedeutung. Ich werde versuchen, mein Vorhaben wie geplant durchzuführen, auf gewisse Weise habe ich das Gefühl, meinen Figuren das schuldig zu sein; in den Büchern, die ich im Laufe der Jahre gelesen habe, habe ich genau diese Beziehung zwischen der Fiktion und ihrem Schöpfer erahnen können: eine Art Übereinkommen, manchmal nur widerstrebend unterzeichnet von beiden Parteien, aber trotz allem haben die fiktiven Figuren ihr Ticket gelöst und bei einer der ersten Haltestellen den Zug oder die Fähre genommen, und sie haben das Recht bis zum aktuellen individuellen Zeitpunkt mitzufahren – oder abgesetzt zu werden. Am anderen Ufer, der Endstation, oder wie immer man es nennen will; das Kapitel, in dem man endlich sein Gepäck bekommt und aussteigen kann, es hat natürlich keinen Sinn, sie im Limbo hängen zu lassen.
    Zunächst jedoch – bevor ich mich voll und ganz diesem Projekt widme – muss ich mich erst einmal dieser großen Stadt widmen. Natürlich; es sind zweifellos noch einige Recherchen zu leisten, es ist ja fast noch ein Monat, bis sie hier eintreffen werden, und ich bilde mir ein, dass ich noch viel Zeit habe. Was meine eigene Präsenz in dem Werk betrifft, so gibt es da auch den einen oder anderen Beschluss zu fassen, aber ich hege keinerlei Befürchtungen, dass etwas ernsthaft schiefgehen könnte. Zumindest nichts Größeres.
    Alles liegt ja nun nicht in meinen Händen, Gott sei Dank; ich habe so viele Bücher in meinem Leben gelesen, und es gibt da etwas, das ich aus ihnen gelernt habe: Das wirklich Wichtige liegt immer außerhalb unserer Kontrolle.
    Er las noch einmal durch, was er geschrieben hatte, und klappte dann den Notizblock zu. Ging zum Tresen, um seine Rechnung zu bezahlen, doch der Barkeeper erklärte ihm, dass er das bereits getan hätte. Er bedankte sich und verließ den Pub. Als er auf die Straße traf, merkte er, dass es ein ungewöhnlich warmer und angenehmer Abend war, und er beschloss, noch unten am Fluss einen Spaziergang zu machen, bevor er ins Hotel zurückkehrte.
    Erst nach Mitternacht war er wieder in seinem Zimmer im Queen’s, und seine Füße waren wirklich müde. Der laue Abend hatte ihn nicht nur an die Themse gelockt, sondern auch noch über den Fluss auf die Südseite. Dann war er Richtung Osten weitergegangen, vorbei an all den Kulturbastionen, über die er gelesen und geschrieben hatte, hatte noch ein Pint Bier in einer modernen kleinen Bar in der Nähe der Tate Modern getrunken und dann seinen Weg weiter über die Fußgängerbrücke nach St. Paul’s fortgesetzt. Anschließend nach Westen, durch City und Covent Garden – hatte dem Impuls widerstanden, schon jetzt mit seinen Recherchen und Notizen anzufangen –, vorbei am Leicester Square und den Piccadilly entlang zurück nach Knightsbridge. Er hatte einen praktischen Stadtplan in Pocketformat, den er ab und zu, wenn er mal stehen blieb, zu Rate zog, und während seiner langen Wanderung spürte er immer deutlicher, dass er auf diese Art und Weise die Stadt eroberte. Sie hatte zwar schon seit langer Zeit als ein Teil seiner inneren Landschaft existiert, doch was jetzt geschah – die Tür zwischen dem Inneren und dem Äußeren wurde geöffnet. Er hatte ein Erlebnis dieser

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