Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
Vom Netzwerk:
und drehte die Zeitschrift, damit der Fremde es mit eigenen Augen betrachten konnte. Dieser holte eine Brille aus der Brusttasche seiner Jacke heraus und musterte das Bild der vier mit offensichtli chem Interesse.
    »Ja, tatsächlich«, nickte er dann. »Christopher und Mary und Leonard. Wie der Vierte heißt, fällt mir im Augenblick nicht ein. Christopher lebt nicht mehr, ich war vor ein paar Jahren auf seiner Beerdigung. Aber sagen Sie mir, wie kommt es, dass Sie hier sitzen und sich eine so alte Zeitschrift angucken?«
    »Es geht genau genommen um diesen Leonard«, erklärte Lars Gustav nach kurzem Zögern. »Es ist eine etwas sonderbare Geschichte.«
    »Tatsächlich?«, fragte der Fremde. »Nun ja, ich will ja nicht aufdringlich sein. Aber wenn Sie sie mir erzählen wollen, höre ich gern zu. Auf meine alten Tage glaube ich so langsam, dass das der eigentliche Grund ist, warum wir hier sind.«
    »Entschuldigung, jetzt verstehe ich nicht richtig«, sagte Lars Gustav.
    »Nun, um miteinander zu reden«, sagte der Mann mit einem hastigen, entschuldigenden Lächeln. »Gott hat uns die Sprache geschenkt, damit wir uns unterhalten und unsere Gedanken austauschen, das ist der Sinn des Ganzen. Nun ja, sei es, wie es sei. Sie kannten also diesen Leonard … wie hieß er noch mit Nachnamen?«
    »Vermin«, sagte Lars Gustav. »Nein, ich kann nicht behaupten, dass ich ihn gekannt habe. Aber ich kannte einen anderen Leonard in meiner Jugend, und er glich diesem Leonard Vermin bis aufs i-Tüpfelchen. Tatsächlich. Vollkommen. Deshalb habe ich die Zeitschrift gekauft, als ich das letzte Mal in London war. Mir war sie durch Zufall in die Hände gekommen.«
    »Das letzte Mal?«, wunderte der Mann sich. »Das muss schon ziemlich lange her sein, oder?«
    »Ein Menschenalter ungefähr«, sagte Lars Gustav. »Aber sagen Sie mir, wie war er, dieser Leonard Vermin? Entschuldigen Sie meine Frage, aber ich habe sozusagen ein persönliches Interesse daran.«
    Der Mann blieb eine Weile schweigend sitzen, schien mit sich selbst zu Rate zu gehen, während er seine Brille mit seiner Krawatte putzte. »Ich weiß es nicht so genau«, sagte er schließlich. »Ich erinnere mich, dass er die Zeitschrift verlassen hat, und ich glaube, er kam zu einigem Vermögen. Aber über seinen Charakter wage ich nichts zu sagen, ich war eher mit ein paar von den anderen bekannt. Mary und Christopher, aber es ist auch schon lange her, dass ich von denen einen gesehen habe. Ja, Christopher ist ja inzwischen tot, wie schon gesagt. Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich glaube, ich muss erst einmal eine rauchen.«
    »Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«, fragte Lars Gustav.
    »Aber natürlich. Lassen Sie uns unsere Gläser mitnehmen, das Wetter sieht ja gar nicht so schlecht aus.«
    Sie gingen gemeinsam auf die Straße. Dort war gerade ein Tisch frei geworden, sie ließen sich nieder, zündeten jeweils ihre Zigarette an und prosteten sich verhalten zu.
    »Und er ähnelte also einem Freund von Ihnen?«
    Lars Gustav nickte. »Bis zur Verwechslung. Zumindest auf diesem Foto hier.«
    Er zeigte auf die Zeitschrift. Der Mann dachte erneut nach. »Es gibt so viele Gesichter auf der Erde«, sagte er. »Eigentlich gar kein Wunder, dass es Doubletten gibt.«
    »Da stimme ich Ihnen zu«, sagte Lars Gustav. »Übrigens starb er sehr jung, mein Freund. Und auch noch hier in London.«
    »Das ist traurig zu hören«, sagte der Mann.
    »Er und seine Freundin. Sie sind unten in der U-Bahn umgekommen.«
    »Wie schrecklich«, sagte der Mann.
    »Ja«, sagte Lars Gustav. »Das war wirklich schrecklich.«
    Sie saßen eine Weile schweigend beieinander und rauchten, dann unterhielten sie sich über andere Dinge, über das Wetter, über die umfassenden Bauarbeiten, die in dem Viertel vor sich gingen, über die ersten Monate der neuen Regierung und das drakonische Sparpaket. Es war in erster Linie der Fremde, der zu diesen Themen seine Ansichten äußerte, während Lars Gustav Selén interessiert zuhörte und das Gespräch mit dem einen oder anderen Einwurf am Laufen hielt, und so saßen sie noch eine ganze Stunde zusammen.
    An einem sonnigen Vormittag ein paar Tage später saß er draußen in einem Café auf der Westbourne Grove und schrieb folgenden Kommentar:
    Zeit ist eine relative Erscheinung, das ist kaum etwas Neues. Zumindest nicht für mich, aber mir ist klar geworden, dass andere ab und zu das Gleiche erleben: wie gewisse Zeitabschnitte unglaublich langgezogen erscheinen,

Weitere Kostenlose Bücher