Himmel über London
Art erwartet, aber nicht, dass die Empfindung so stark sein würde. Stark und gleichzeitig vollkommen selbstverständlich.
Was natürlich sehr erfreulich war. Je größer die Überschneidung zwischen dem Erzähler und dem Erzählten war, umso besser, das hatte er bei Bloom wie auch bei Hockstein gelesen, und mit einem Gefühl müder Zufriedenheit kroch er an diesem ersten Abend an der Stätte des Geschehens ins Bett.
Eine Zeit intensiver Recherchearbeit begann. Lars Gustav Selén verließ das Hotel meistens gegen neun Uhr morgens, und er war selten vor neun Uhr abends zurück. Er wanderte durch die Stadt, besonders durch die Stadtteile nördlich der Parks, Paddington, Bayswater und Notting Hill, saß in Cafés und Pubs und notierte sich Details: er fuhr mit der Untergrundbahn, zählte die Treppenstufen in Covent Garden, besuchte das British Museum, die National Gallery und St. Martin-in-the-Fields. Er saß in der Lobby des Rembrandt , in Anzug und Schlips, um wie ein adäquater Hotelgast auszusehen, besuchte das neu eröffnete Antiquariat Bramstoke and Partners in der Hogarth Road und ortete die Kemble Street. Eines Tages nahm er den Zug nach Bristol und wieder zurück, an einem anderen nach Oxford. Jede Stunde war angefüllt mit neuen Arbeitsaufgaben, und es gab ihm ein zunehmendes Gefühl von Befriedigung.
Anfang September wechselte er das Hotel. Er stieg im Lords in Bayswater ab, und jetzt konnte er spüren, dass sich etwas zusammenbraute. Als wäre er einen Schritt aus einem Zimmer in ein anderes, heller erleuchtetes gegangen; vom Betrachter möglicherweise zum Handelnden, es würde nicht mehr lange dauern, bevor die ersten Figuren in Paddington ankämen, und er spürte eine pulsierende Erregung in sich. Vielleicht auch das Gefühl, als bereitete sich die Umgebung um ihn herum auf etwas vor. Ein paar Nächte lang hatte er Probleme mit dem Schlaf gehabt, und jetzt beschloss er ernsthaft, die Idee in die Tat umzusetzen und mit dem Rauchen anzufangen. Er kaufte sich ein Päckchen Camel, die erste Zigarette ließ ihn ein wenig schwindlig werden, aber bereits nach der zweiten hatte er sich daran gewöhnt.
52
E s dauerte bis Mitte September, bevor er mit einem anderen Menschen in London ins Gespräch kam. Natürlich wechselte er das eine oder andere Wort mit Personen in Servicefunktionen, mit dem Hotelpersonal, Angestellten in Geschäften, in Restaurants oder Cafés, aber erst eines Abends im Bonaparte , einem Pub in der Chepstow Road, wurde er in etwas verwickelt, was man ein Gespräch nennen könnte. Es war gegen neun Uhr, er saß an einem Tisch und blätterte in The Spiff , der Zeitschrift, die er bei seinem letzten Besuch in London gekauft hatte, mehr als dreieinhalb Jahrzehnte zurück in der Zeit. Es war eine Art Undergroundmagazin – zumindest war das die Warenbezeichnung, die vorn auf dem Titelbild stand, das geschmückt war mit einer Gruppe langhaariger Männer und Frauen in eigentümlicher Kostümierung, draußen im Wald auf einem umgestürzten Baumstamm sitzend.
Da es ein Freitagabend war, befanden sich ziemlich viele Leute im Bonaparte , und nach einer Weile kam ein älterer Herr mit einem Glas in der Hand auf ihn zu und fragte, ob er sich setzen dürfte. Lars Gustav nickte, und kaum hatte der Mann sich gesetzt, da hob er auch schon verwundert die Augenbrauen.
»Die Zeitschrift haben Sie aber nicht heute gekauft.«
»Das stimmt«, erwiderte Lars Gustav. »Ich habe sie vor sechsunddreißig Jahren gekauft.«
Der Mann nickte. »Entschuldigen Sie meine Bemerkung. Ich wollte mich nicht aufdrängen.«
Er sprach ein auffallend gewähltes Englisch, und seiner Kleidung nach zu urteilen zog Lars Gustav den Schluss, dass er wohlsituiert sein musste.
»Das macht nichts«, versicherte er. »Aber kennen Sie die Zeitschrift denn?«
Der Mann lachte kurz. »Aber natürlich. Das war eine andere Zeit damals. Sturm und Drang, wenn Sie den Ausdruck kennen?«
Lars Gustav bestätigte, dass ihm der Ausdruck vertraut war. Der Mann hob sein Glas und deutete einen Toast an. Sie tranken beide einen Schluck, der Mann schien zu zögern. »Ich kannte sogar einige von denen, die die Zeitung gemacht haben«, erklärte er dann und zeigte mit der Hand. »Vor allem einen, der Christopher hieß. Aber die anderen auch.«
Lars Gustav Selén spürte, wie der Puls in seinen Schläfen pochte. »Interessant«, sagte er. »Es gibt sogar ein Foto von der Redaktion in dieser Ausgabe.«
Er blätterte ein paar Seiten weiter, fand das Foto
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