Himmel über London
obwohl sie laut unseren Uhren und Chronometern doch nur wenige Stunden umfassen – während es andererseits vorkommt, dass ganze Tage, vielleicht auch Wochen und sogar Jahre wie ein stetig fließender Strom vorbeirinnen können, ohne dass man es wirklich bemerkt. Ja, in vielen Büchern bin ich auf diese Beobachtung gestoßen.
Was den Unterschied zwischen Dichtung und Wirklichkeit betrifft, so verhält es sich hier genauso, hier gibt es den gleichen Typ von Relativität, aber nach allem, was ich weiß, ist das eine weniger bekannte Tatsache. Dass die Grenze zwischen dem, was tatsächlich passiert, und dem, was nur erdichtet wurde, so dünn ist, meine ich. Doch um einzusehen, dass es so ist, muss man ja nur überlegen, dass alles, was in der sogenannten Wirklichkeit einen Platz einnimmt, einen Beobachter erfordert, um überhaupt registriert zu werden, und dieser Beobachter ist immer ein Mensch. Oder es sind mehrere, aber jeder Einzelne mit seinen individuellen Sinnen, seinem subjektiven Gehirn und seiner persönlichen Art, das aufzufassen, was er gesehen, gehört und erlebt hat. Worin besteht dann eigentlich der Unterschied? Wir sind alle in unserem Bewusstsein gefangen, und ich wiederhole: Worin besteht der Unterschied?
Mein Onkel Gudmar, der im Gegensatz zu seinem Bruder nie mit der Unwahrheit gespielt hat, erzählte einmal folgende Geschichte: In dem kleinen nordländischen Marktflecken, in dem er und mein Vater geboren wurden und aufwuchsen, gab es einen trinkenden Friseur mit Namen Adamsson. Die eine Woche schnitt er Haare und rasierte, die andere widmete er sich dem Trinken, das war eine akzeptierte Ordnung, und niemand schien etwas Merkwürdiges daran zu finden, dass er seinen Salon in regelmäßigen Abständen geschlossen hielt. Adamsson schaffte es auch so, sämtliche Schädel vor Ort zu frisieren, und es gab nie eine Klage über seine handwerklichen Fähigkeiten. Eines Nachts im Monat Mai 1919 – im selben Jahr, in dem übrigens mein Vater geboren wurde, Gudmar war neun Jahre älter – bekam Adamsson in seinem Schlafzimmer unerwarteten Besuch von drei äußerst schönen und äußerst nackten Damen, es war in einer seiner Besäufniswochen. Sie unterbreiteten ihm einen Vorschlag, der darauf hinauslief, dass er einige Stunden lang mit ihnen alles machen durfte, was ihm einfiel, wenn er dem aber zustimmte, dann würde den Ort ein schweres Unheil ereilen.
Adamsson beschloss nach reiflicher Überlegung, den Vorschlag abzulehnen, die Damen verschwanden, und das Unheil blieb aus. Danach dachte der Barbier, ihm stünde ja wohl eine Art Belohnung dafür zu, dass er das Wohl und Wehe des Ortes über seine eigenen Triebe und Bedürfnisse gestellt hatte. Schließlich hatte er alle vor einem großen Unglück gerettet. Als er das dem Bürgermeister vortrug, erntete er ein glattes Nein. Es war ausgeschlossen, das Geld der Steuerzahler für so einen Einfall zu verwenden.
Einige Zeit später ereignete sich das Gleiche noch einmal, und wieder lehnte Adamsson dankend ab und brachte seine Forderung auf Erstattung für sein moralisches Handeln erneut vor. Auch dieses Mal wurde sie wieder entschieden abgelehnt. Während Adamsson schnitt und rasierte, erzählte er seinen Kunden von den drei Damen, von seiner Standhaftigkeit und der knauserigen Einstellung der Würdenträger, aber es gab wahrscheinlich nicht viele, die ihm das mit den nächtlichen Besuchen glaubten. Nach Verlauf weiterer Wochen tauchten die Schönheiten ein drittes Mal in seinem Schlafzimmer auf, und dieses Mal verwarf Adamsson seinen früheren Standpunkt und vergnügte sich ausschweifend mit ihrem weichen Fleische bis in die frühen Morgenstunden.
Auch mit dieser Geschichte unterhielt er seine Kunden in der folgenden Woche, doch kurz darauf, nach nur wenigen Tagen, wurde der Ort von der Spanischen Grippe heimgesucht. Bis dahin war die kleine Gemeinde von dieser schrecklichen Epidemie immer verschont geblieben, doch im Laufe weniger Herbstmonate starben nun einhundertachtundneunzig Personen daran, Alte wie Junge, Männer, Frauen und Kinder, ja, fast zwanzig Prozent der Bevölkerung starb auf diese Art – einer der höchsten Prozentsätze im ganzen Land –, und jetzt geschah etwas Unerwartetes. Im ganzen Ort gab es wohl keinen einzigen Menschen, der nicht von Adamssons Geschichte gehört hatte, und plötzlich ging man nicht mehr in seinen Salon. Bevor das Jahr vorüber war, hatte er alle seine Kunden verloren, und er ging dazu über, jede Woche zu trinken
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