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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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die meisten war Paddington Station kein Ziel an sich. Nur ein Punkt auf einer Zeitlinie zwischen jetzt und später. Etwas, das man auf seinem Weg zwischen Nachmittag und Abend passierte, zwischen fern und daheim. Er hatte irgendwo gelesen, dass der Begriff Zeit außerhalb unseres menschlichen Bewusstseins eigentlich gar nicht existierte, dass es nur eine vereinfachte Art war, verschiedene Orte im Raum erfassen zu können.
    Er holte sein Notizbuch heraus und schrieb diese simple Reflektion nieder. Trank seinen Kaffee aus und suchte sich seinen Weg zu der Reihe schwarzer Taxis, die auf der Rückseite des Bahnhofs warteten.
    Das erste Hotel, in dem er ein Zimmer reserviert hatte, lag in Knightsbridge, auf der südlichen Seite der Parks. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, das Rembrandt aufzusuchen, dann aber doch verworfen. Es war nicht nötig, genau dort zu übernachten, und das Queen’s in der Walton Street war eine Alternative, die sowohl zu seiner Geldbörse passte als auch zu seiner Suche nach dem Einfachen und dem ungekünstelten Besseren.
    Ein glatzköpfiger Mann in den Vierzigern saß in der Rezeption und hieß ihn willkommen. Er kontrollierte seinen Pass drei Sekunden lang und zog seine Kreditkarte durch einen Spalt in einer Maschine, die Lars Gustav an einen Messerschärfer erinnerte, wie ihn Tante Ragnhild immer benutzt hatte.
    »Also eine Woche?«
    »Erst einmal, ja. Vielleicht auch zehn Tage.«
    Das Zimmer lag eine Treppe hoch. Es wies ein Bett auf, einen kleinen Schreibtisch mit einem Stuhl und nicht viel mehr. Das Fenster zeigte auf einen Hinterhof, und die enge Toilette hatte eine Duschecke mit einem rosa und gelben Duschvorhang.
    Er fand das in jeder Hinsicht ausgezeichnet. Holte seine Bücher und seinen Laptop heraus, seinen Notizblock und die Stifte – aber nicht die drei Objekte – und legte alles auf den Schreibtisch. Die Reisetasche musste hochkant neben dem Bett stehen, in dem Zimmer gab es weder einen Schrank noch eine Nische, wo er sie hätte hinstellen können. Aber es gab Platz für seine Rückenübungen, und fünfzehn Minuten lang führte er das übliche Programm aus.
    Als er fertig war, kontrollierte er, ob die Schreibtischlampe funktionierte, schaute auf die Uhr und beschloss auszugehen, um etwas zu essen.
    Der Pub hieß The Gloucester , und Lars Gustav Selén fand, es sah haargenau so aus wie die beiden Pubs, mit denen er während seines Besuchs vor sechsunddreißig Jahren Bekanntschaft geschlossen hatte.
    Was er zunächst einmal als gutes Zeichen ansah, er bestellte sich einen Fleischauflauf mit Kartoffelbrei, ein Pint Ale und nahm an einem der Fenster zur Straße hin Platz. Konnte sich umsehen und das halbe Bier austrinken, bevor das Essen kam. Es waren nicht besonders viele Menschen im Lokal, gut zehn Leute verschiedenen Alters, ein paar ältere, einzelne Herren an der Bar und zwei kleinere Gruppen, die an den Tischen saßen. Draußen auf dem Bürgersteig gab es noch einige Tische für die Raucher, und dort saßen zwei Frauen jeweils mit einem roten Drink und sorgten dafür, dass der Nikotinpegel auf gewünschtem Niveau blieb.
    Was Lars Gustav Selén betraf, so hatte er vor vielen Jahren aufgehört zu rauchen, doch der Gedanke, sich während seines Besuchs in dieser großen Stadt die eine oder andere Zigarette zu gönnen, war ihm nicht ganz fremd. Die Tätigkeit selbst hatte etwas an sich, was ihm zusagte, diese passive Beschäftigung, nachdem man eine Zigarette angezündet hatte, um dann ruhig und methodisch – ohne Hektik, aber auch ohne wirkliche Konzentration – seine fünfzehn, zwanzig Züge zu rauchen, die notwendig waren, bevor man die Kippe ausdrücken und sich wieder dem widmen konnte, das man unterbrochen hatte.
    Er beschloss jedoch, diese mögliche Aktion zunächst einmal aufzuschieben. Nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte, bestellte er stattdessen ein weiteres Pint und holte seinen Notizblock heraus. Er trank einen Schluck und dachte eine Weile nach, dann schrieb er folgenden Kommentar nieder:
    Hier sitze ich jetzt. Es ist zweifellos etwas merkwürdig, aber ich habe erwartet, dass es sich so anfühlt. Nicht so zu empfinden wäre noch merkwürdiger gewesen. Ich bin einen Schritt gegangen, dessen Konsequenzen nicht zu überschauen sind. Ich bin in meinen gut sechzig Jahren auf der Erde nicht viele Schritte gegangen, und mir ist klar, dass mein Leben einem außenstehenden Betrachter als ziemlich dürftig erscheinen muss. Doch so einen Betrachter gibt es nicht. Ich bin

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