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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Gesamtzusammenhang nicht die Bohne. Man hascht nach dem Wind, und dann stirbt man, das ist das Leben in kurze Worte gefasst.
    Deshalb bin ich froh, dass ich einen Plan habe.
    Und ich bin froh, dass es mir gelungen ist, diese traurigen Notizen zu Ende zu lesen.
    Auf jeden Fall waren wir fast schon in Hammersmith, als Maud sich langsam wunderte, ob wir denn wirklich auf dem richtigen Weg waren. Ihre Nägel sahen schön aus, aber ich glaube, sie waren noch nicht ganz trocken, denn sie wedelte mit den Händen wie ein Seehund auf einer Meeresklippe.
    Natürlich sind wir auf dem richtigen Weg, versicherte ich ihr.

60

Das gelbe Notizbuch
    I ch dachte, es würde eine weitere Autofahrt auf mich warten. Doch stattdessen fuhren wir mit der Straßenbahn und dem Trolleybus, stiegen zweimal um, und es dauerte mehr als eine Stunde, bis wir angekommen waren.
    Wir standen in einem Vorort. Große, hohe Mietskasernen in grauem Beton auf offenem Gelände. Der Film, dieser immer wiederkehrende Fluchtgedanke, war plötzlich schwarzweiß; es gab keine Farben, soweit das Auge reichte, abgesehen vom Dach des Unterstands an der Haltestelle, das in einem toten Grünton gehalten war, pigmentfrei irgendwie. Aber vielleicht lag es auch an der Dämmerung, ich weiß es nicht; der Eindruck von Resignation und Trostlosigkeit war zumindest greifbar. Wir überquerten einen kahlen Marktplatz, gingen auf zwei Telefonzellen zu. Der junge Mann machte mir ein Zeichen, davor zu warten, während er hineinging und telefonierte; wir hatten auf der ganzen Fahrt nicht ein Wort gewechselt, es war offensichtlich, dass er keine anderen Sprachen als Tschechisch und Russisch sprach. Nach einer Minute kam er aus der Zelle heraus, gab mir zu verstehen, dass ich hierbleiben und warten sollte. Er schaute auf seine Armbanduhr und hielt fünf Finger in die Luft.
    Dann überquerte er den Platz wieder, ging zurück zur Haltestelle, sprang auf eine Straßenbahn, die Richtung Zentrum fuhr, und war verschwunden. Ich blieb vor der Telefonzelle stehen und dachte, das Leben könnte nicht erbärmlicher werden als hier.
    Ja, genau das dachte ich, und es gab nichts in der Zeit oder dem Raum, was diesen Gedanken Lügen strafte, absolut nichts. Noch sechs Jahre später, während ich diese Aufzeichnungen mache, kann ich dieses Gefühl der Nichtigkeit in mir hervorrufen: die zunehmende Dämmerung, der Mangel an Licht, der Mangel an Farben, der Mangel an Leben; die kranken, blattlosen Bäume, die vereinzelten Menschen, die über den Platz huschten oder vor einer kleinen Reihe schlecht beleuchteter Geschäfte hingen. Keine Waren in den Schaufenstern, die abgeblätterten Telefonzellen, der raue Wind, der über alles hinwegfegte, ja, das ist kein Bild, das es verdient, in irgendeiner Art von Erinnerungsgebilde aufbewahrt zu werden, aber es lässt sich auch nicht ausradieren.
    Vielleicht wäre dennoch alles anders gekommen, wenn Carla wirklich nach fünf Minuten aufgetaucht wäre, wie mein Begleiter mir zu verstehen gegeben hatte. Aber es dauerte fünfundzwanzig, und das war genug, um einen Stachel in mir festzusetzen. Etwas, um dieses jämmerliche Bild in mir festzuätzen. Damals war mir das nicht klar, absolut nicht, aber später spielte es offensichtlich eine entscheidende Rolle.
    Sie kam aus einem der hohen Betonhäuser angelaufen, sie trug eine flatternde gelbe Regenjacke, und sie umarmte mich mit einer Glut und einem Eifer, den ich nicht erwartet hatte, ein wunderbarer Kontrast zu der Umgebung und meinem verzagten Herzen. Aber ich wusste auch nicht, was ich eigentlich erwartet hatte, wenn überhaupt etwas.
    »Leon, entschuldige, dass ich mich verspätet habe. Bitte, bitte entschuldige!«
    »Kein Problem, ich habe ja hier nichts auszustehen gehabt.«
    Vielleicht habe ich auch etwas anderes gesagt, etwas ebenso Inhaltsleeres, ich erinnere mich nicht mehr.
    »Dass du hier so allein und verlassen warten musst, das war nicht geplant. Aber jetzt komm, das Essen ist fertig, der Wein ist geöffnet, das Bett ist frisch bezogen!«
    Sie lachte. Ich lachte, was hätte ich auch sonst tun sollen? Und ich dachte, dass ich wirklich bereit war, dieser Frau bis ans Ende der Welt zu folgen.
    Wenn ich die Möglichkeit hätte, zwölf Stunden meines Lebens noch einmal zu leben – nicht sechs Wochen, wie ich es in einem früheren Absatz gewünscht habe –, dann würde ich vielleicht diesen Abend und diese Nacht aussuchen. Bereits während sie verstrichen, war mir das klar. Während wir in ihrer einfachen

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