Himmel über London
mir?«
»Ja«, sagte ich, »natürlich tue ich das.«
Nein, welche Worte wir an diesem Morgen benutzten, mich daran zu erinnern, das fällt mir nicht schwer.
Der Park begann direkt hinter ihrer Schule, und ich sollte noch viele Stunden in ihm verbringen. Ehrlich gesagt kann ich die einzelnen Male nicht voneinander unterscheiden, Carla unterrichtete vier oder fünf Tage in der Woche, und jeden Tag fuhr ich mir ihr mit der Straßenbahn zur Schule. Ich spazierte im Park herum, bis sie fertig war, dann fuhren wir gemeinsam zurück zu ihrer Wohnung. Wir kauften in verschiedenen Läden in der Nähe ein, einer war leerer als der andere, aber Carla hatte meistens schon etwas bestellt, was aus dem Hinterzimmer geholt wurde. Fleisch, Gemüse und Fisch. Ich stellte Fragen zu dieser Prozedur, aber sie erklärte mir nur, dass es hier halt so ablief.
Ein paar Mal hatte sie doppelte Arbeitsschichten, und ich strich dann vier, fünf Stunden lang im Park herum. Aber das störte mich nicht, er war langgezogen und teilweise wirklich schön, ging nach einer Weile in ein kleines Waldstück über, das in einen breiten, reißenden Fluss mündete. Es war Frühling und meistens schönes Wetter, jede Menge Blumen waren bereit zu erblühen, Krokusse, Narzissen, sogar einige große Magnolienbüsche zeigten ihre Knospen. Der Vogelgesang war zeitweise fast betäubend, und mit dem tristen Vorstadtgebiet auf der anderen Waagschale fiel die Wahl nicht schwer. Auf meinen Wanderungen begegnete ich nur selten anderen Menschen, was mich verwunderte, aber dadurch hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Vielleicht allzu viel Zeit.
Abends kochten wir zusammen, tranken Wein und liebten uns. Zweimal traf ich Carlas Schwester, ihren Schwager und deren Sohn Bobik; das eine Mal fuhren wir zusammen ins Zentrum von Prag und aßen in einem Restaurant nahe am Fluss. Die Schwester und der Schwager sprachen nur schlecht Englisch, und die Konversation lief die ganze Zeit auf Krücken. Bobik war sechs Jahre alt und unglaublich schüchtern, er sollte Ende des Sommers ein Geschwisterchen bekommen.
Carla und ich fuhren natürlich auch allein ins Zentrum; sie zeigte mir alle Sehenswürdigkeiten: den Vaclavplatz, die Karlsbrücke, die berühmte astronomische Uhr, den jüdischen Friedhof, die Kathedrale und die berühmte Burg. An einem Sonntag mietete sie ein Auto, wir fuhren nach Karlsbad und badeten in den Heilquellen.
Doch der noch heute vorherrschende Eindruck dieser vier Wochen, die wir zusammen waren, bestand darin, dass eigentlich nichts passierte. Es war der absolute Gegensatz zu der Zeit in London, in der eine plötzliche Veränderung nach der anderen unsere Erkennungsmelodie war. Oder genauer gesagt, Carlas Erkennungsmelodie. Auftrag, unerwarteter Abschied, Geheimniskrämerei und frustrierende Ungewissheit. Bewegung und plötzliche Entscheidungen.
Jetzt hatte diese Bewegung aufgehört, und stattdessen waren unsere Tage von einer starken Nähe erfüllt, ich finde kein besseres Wort dafür. Wir widmeten unglaublich viel unserer Aufmerksamkeit vor allem uns selbst. Ziel und Sinn jeder wachen Minute war es, dass wir zusammen waren, was mich betraf, so war es eine Art von Selbstverständlichkeit, da ich kaum etwas anderes hatte, auf das ich meine Aufmerksamkeit hätte richten können. Woran ich mich im Nachhinein am deutlichsten erinnere, was die äußere Landschaft angeht, so sind dies triste Mietskasernen und meine Wanderungen durch den Park – wobei es natürlich jeder beliebige Park auf der Welt hätte sein können.
Ein Park ist ein Park ist ein Park, und es ist vielleicht symptomatisch, dass ich mir nie die Mühe gemacht habe herauszufinden, wie er hieß. Ich lebte in einem Niemandsland mit einem einzigen Schwerpunkt: Carla. Und wenn wir zusammen waren, was wir die ganze Zeit waren, abgesehen von den Stunden, die sie in der Schule unterrichtete, so lebten wir auf einer isolierten Insel, die von welchem unbekannten Meer auch immer umgeben sein mochte. Und wir waren gezwungen, unsere Wirklichkeit zu erfinden. Ja, so war es.
Heute ist ein sonniger Spätsommertag. Ich sitze im Tiergarten in Berlin und versuche Worte für diese Wochen zu finden, aber ich fühle mich immer verzagter. Ich sollte unsere Gespräche wiedergeben, sie zumindest beschreiben, aber sie sperren sich dagegen. Wir redeten so viel miteinander, doch gleichzeitig weiß ich, dass wir wie die Katzen um den heißen Brei herumschlichen. Die große Frage, die entscheidende, berührten wir gar nicht
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