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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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erst. Das war das verbotene Vakuum, um das sich alle unsere Worte, alle unsere Liebesbeteuerungen drehten, doch wir steckten nie die Hand hinein, um zu fühlen. Wir schoben es immer wieder auf. Morgen vielleicht. Nach dem Wochenende. Nächste Woche, nachdem wir in Karlsbad gewesen sind. So dachte ich, und ich gehe davon aus, dass auch sie so dachte.
    Es ging um unser Leben, und wir taten so, als ob dem nicht so wäre. Vielleicht habe ich sie auch falsch eingeschätzt und damit alles andere auch.
    Aber drei Tage, bevor mein Visum ablief, sagte ich ihr:
    »Carla, ich komme morgen nicht mit zur Schule. Ich fahre zum Bahnhof und kaufe mir eine Fahrkarte.«
    Es war am Abend. Wir hatten gegessen und abgewaschen. Hatten uns mit dem Rest der täglichen Weinflasche aufs Sofa gesetzt. Sie hatte einen Vorrat an italienischen Weinen, von dem ich nicht wusste, wie sie dazu gekommen war, auf jeden Fall waren sie nicht in der Tschechoslowakei gekauft worden. Eine Platte mit Bessie Smith drehte sich auf dem Plattenteller. Eine ganze Weile blieb sie stumm, ein leiser Regen klopfte ans Fenster.
    »Bist du dir sicher?«, fragte sie.
    »Nein«, antwortete ich. »Ich bin mir nicht sicher.«
    »Sag jetzt nichts weiter«, sagte sie, »lass uns lieber ins Bett gehen. Ich bin müde. Vielleicht hast du es dir ja morgen früh anders überlegt.«
    Doch am folgenden Morgen wiederholte ich, was ich gesagt hatte. Wir hatten uns in der Nacht still, intensiv und lange geliebt, und eigentlich konnte ich selbst nicht begreifen, wie es mir gelingen konnte, diese Worte noch einmal hervorzubringen.
    Zuerst erwiderte sie nichts. Sie saß auf der anderen Seite des Küchentischs, den Kopf in eine Hand gestützt.
    »Du wagst es nicht, mir zu vertrauen«, sagte sie.
    »Doch«, widersprach ich, »aber ich weiß nicht so recht, was das bedeutet.«
    Sie schaute aus dem Fenster. Ich erinnere mich, dass es immer noch regnete, das tat es bereits die ganze Nacht.
    »Es gibt eine Episode in der Bibel, die kein moderner Mensch begreift«, sagte sie.
    »Welche?«, fragte ich.
    »Die über Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern soll. Du kennst sie doch, oder?«
    Ich nickte.
    »Genau davon handelt alles. Du bist kein Abraham.«
    Ich versuchte zu verstehen, was sie sagte, aber es gelang mir erst später. Viel später, nicht an diesem letzten Morgen in ihrer Küche, als es notwendig gewesen wäre. Ich glaube nicht, dass ich etwas erwiderte oder fragte, und nach einer Weile stand sie auf.
    »Wenn du gehst, dann nimm deine Sachen mit. Wenn heute kein Zug mehr fährt, dann wirst du problemlos in der Stadt ein Hotel finden. Lebe wohl, Leon, ich werde jetzt duschen. Sei so gut und sei verschwunden, wenn ich fertig bin.«
    Sie beugte sich vor und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann verschwand sie im Badezimmer, und ich suchte meine Sachen zusammen.
    Zwanzig Minuten später saß ich in der Straßenbahn.
    Ich lese diesen Absatz noch einmal durch. Immer noch sitze ich im Tiergarten. Seit Prag sind sechseinhalb Jahre vergangen. Zwölf seit Trafalgar Square.
    Morgen werde ich Berlin verlassen. Ich weiß nicht, wohin ich auf dem Weg bin.
    Ich bin kein Abraham.

VI.

61

    M ittwoch, den 24. September – den vorletzten Tag, wenn nicht alle Zeichen trogen –, verbrachte Lars Gustav Selén in seinem Zimmer im Lords Hotel in Bayswater. Alle Recherchen waren gemacht, alle Straßennamen und Gebäude kontrolliert, alle Zugfahrpläne, U-Bahn-Stationen und Treppenstufen streng geprüft, bestätigt und nachgerechnet; was jetzt noch vor der Auflösung nötig war: ein Tag konzentrierte Schreibarbeit. Er wachte früh auf, trank Kaffee und versorgte sich draußen auf dem Westbourne Grove mit ein wenig Proviant, doch von neun Uhr morgens bis halb zehn Uhr abends saß er mit all seinen Notizen an dem wackligen Schreibtisch vor dem Fenster, das zum Leinster Square zeigte. Da draußen war ein angenehmer Herbsttag, er hatte das Fenster einen Spalt geöffnet, und die leisen Verkehrsgeräusche und die Stimmen der vorbeieilenden Passanten störten ihn in keiner Weise.
    Er näherte sich einem Punkt, einer Art Stunde der Wahrheit, das hatte er während der letzten Wochen immer deutlicher gespürt, und während er jetzt mit all seinen Worten, seinen Notizbüchern und seinen Stiften dasaß, schien es wieder, als würde sich das Dasein um ihn verdichten. Während er schrieb und korrigierte, konnte er registrieren, wie seine Figuren, diese konstruierten Individuen, die zu sezieren und genau zu

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