Himmel über London
untersuchen er so lange versucht hatte – aber die auch ihn seziert und genau untersucht hatten, mittels des ungeschriebenen Vertrags, der zwischen dem Regisseur und den Rollen immer eingegangen wird –, wie diese fiktiven, doch in seinen Augen vollwertigen Menschen sich also in gewisser Weise hinter seinem Rücken im Zimmer befanden. Ja, genau so war es: Sie standen da und hielten den Atem an. Hielten den Atem an und warteten ab. Es gibt viele verschiedene Arten von Stille in der Welt, und es kann schwer sein, sie zu unterscheiden, aber diese Stille, die eine Gruppe von Menschen ausströmt, deren Existenz in Frage gestellt ist, und die dasteht und in gespannter Erwartung den Atem anhält, die ist nicht zu verwechseln. Der Erzähler lenkt den Leser, die Erzählung lenkt den Erzähler.
Er schrieb nicht nur, er redigierte auch. Den ganzen langen Abschnitt darüber, wie er den Pub an der Wardour Street in Soho gefunden hatte – wie er den stotternden Barkeeper interviewte und wie es ihm schließlich gelungen war, den Besitzer aufzuspüren, einen gewissen Jonathan Stiller (der tatsächlich derselbe Stiller war, den es bereits seit Mitte der Sechziger dort gegeben hatte, und der tatsächlich zwei schwedischen Jugendlichen für gut ein Jahr ein Zimmer vermietet hatte) –, und dann beschloss er, diese sechs Seiten voll und ganz zu streichen. Mr. Stiller lebte in einem Heim in Chelsea (das ursprünglich für Kriegsveteranen eingerichtet worden war, aber es wurde ein wenig knapp mit alten Kriegern); er war über neunzig, und es war unklar, ob er in seinem Inneren verstand, worum das Gespräch eigentlich ging. Vielleicht wollte er einfach nur behilflich sein, wenn da schon einmal ein scheinbarer Schriftsteller auf der anderen Seite des schönen alten Teetisches saß, mit Gloucestershireporzellan, warmen Scones, Cornish Clotted cream und Brombeerkonfitüre, die Mr. Stiller das Kinn hinunterlief und von der Krankenschwester in hellblauer Tracht in regelmäßigem Abstand mit Hilfe einer Serviette, farblich zu ihrer Tracht passend, abgewischt wurde. Lars Gustav Selén wusste um die Gefahr, an falscher Stelle zu fabulieren, das hatte er bereits auf dem Schulhof gelernt. Wovon bereits berichtet wurde.
Doch andererseits: Langsam fiel alles an Ort und Stelle, wo es hingehörte. Dieser dunkle Abend auf der Straße zwischen Saaren und Oostwerdingen beispielsweise, der leichte Stoß und das nur Sekunden dauernde Wirbeln durch die Luft, ebenso wie Zigeuner-Tonys nie aufgeklärtes Verschwinden draußen auf dem Eis – und im Laufe der späten Nachmittagsstunden bekam Lars Gustav allmählich ein immer deutlicheres und teilweise neues Bild davon, wovon das alles handelte. Wie der oft gesungene Tango der Worte und des Fleisches sich eigentlich darstellte und wie viel seines eigenen Lebens eigentlich aus Um- und Irrwegen bestand.
Gleichzeitig erkannte er, dass er sich einer Art Leere näherte oder eine Art von Leere sich ihm näherte. Die Tage waren gezählt, die Stunden, Minuten und Sekunden tickten unerbittlich auf den Punkt der Entscheidung zu, und obwohl alles choreographiert, geplant und bis zum letzten Buchstaben in seinem Kopf berechnet war, so schien es dennoch – am Rande dieser wachsenden Leere – etwas anderes zu geben, etwas, das sozusagen aus einer anderen Richtung her tickte.
Vielleicht war ihm sogar klar, dass es so sein musste. Dieser Unsicherheitsmoment konnte sehr wohl der Motor des gesamten Prozesses sein, es gab Forscher, die das behaupteten. Der weiche Kern, der Riss in der Mauer, durch den das Licht oder die Dunkelheit eindringen oder hinaussickern konnte. Die Arena der Verwandlung, das Grenzland oder wie immer man es auch nennen wollte.
Doch über diese Reflexionen und dunklen Vorahnungen brachte er kein Wort zu Papier. Es gab sie, und insoweit, als sie irgendwelche Bedeutung für die Erzählung an sich hatten, mussten sie sich anpassen und versuchen, sich zwischen den Zeilen bemerkbar zu machen, nicht auf ihnen.
Erst gegen sechs Uhr abends schaltete er seinen Computer ein und fing an, den endgültigen Text abzuschreiben. Das ging problemlos, fast verdächtig leicht, und als er schließlich mit dem letzten Durchlesen fertig war, war es fünf Minuten nach halb zehn. Er schaltete den Laptop aus, legte Papier und Stifte ordentlich beiseite, absolvierte seine üblichen Rückenübungen und beschloss in einem der Pubs im Viertel ein Pint Bier zu trinken. Es war ein langer Arbeitstag gewesen, der Abend schien mild
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