Himmel über London
Worten.
Damit du dir klar darüber wirst, wie wichtig das ist, möchte ich dir folgende kleine Geschichte erzählen. In der Stadt K. im Land S. lebte und arbeitete vor langer Zeit einmal ein Barbier mit Namen Cederson. Er war ein tüchtiger Handwerker, aber er war auch Alkoholiker. Jede zweite Woche …
Hier unterbrach sie ihre Lektüre, weil das Telefon klingelte. Eine Minute lang zögerte sie, bevor sie abnahm.
Es war ihr Bruder. Seine Stimme klang blass, ungefähr wie damals, als er mit dem Fahrrad gestürzt und sich seinen Pimmel fast an der Querstange gequetscht hatte. Im Alter von sechseinhalb, wenn sie sich nicht irrte.
»Du musst mir helfen, Irina.«
»Ja? Wo bist du denn?«
»Auf dem Polizeirevier.«
Sie schaute auf die Uhr. »Wir werden hier unten in fünfundvierzig Minuten abgeholt.«
»Deshalb musst du mir ja helfen.«
»Haben sie dich verhaftet?«
»Ich weiß nicht. Nein, das haben sie wohl nicht, aber sie lassen mich nicht gehen, wenn sie nicht die Nummer von meinem Pass kriegen.«
»Aber dann gib sie ihnen doch.«
Er stöhnte. Oder schluchzte. Oder eines nach dem anderen oder beides zugleich. »Ich weiß nicht, wo ich ihn habe. Vielleicht liegt er auf meinem Zimmer. Oder ich habe ihn gestern Abend verloren, als ich … Hundesitter war.«
»Gregorius, ich kann nicht behaupten, dass mich das wundert.«
»Die Passnummer reicht ihnen, Irina. Glaube ich jedenfalls. Kannst du nicht mit Inspektor Thomas reden, er sitzt mir hier gegenüber? Ich habe ihm die Situation erklärt, dass ich um jeden Preis zu dieser Zusammenkunft muss und dass ich gerne morgen wieder hier auftauche. Aber er will unbedingt …«
»… eine Passnummer. Ich verstehe. Einen Moment, Greg.«
Zusammenkunft?, dachte sie. Zumindest war er ein erfindungsreicher Lügner, das musste man ihm lassen. Zusammenkunft klang deutlich wichtiger als Geburtstagsfeier. Sie holte ihren Pass aus der Handtasche und ging zum Telefon zurück. Jetzt war es eine dunkle Männerstimme, die mit ihr sprach, kein sechseinhalb Jahre alter Junge, der auf seinen Pimmel gefallen war.
»Ihr Bruder hat so einige Schwierigkeiten, Fräulein Miller.«
»Das ist mir klar.«
»Wir sind bereit, ihn für heute Abend auf freien Fuß zu setzen. Wir haben begriffen, dass er einen wichtigen Termin hat.«
»Danke«, sagte Irina. »Ja, das stimmt.«
»Wenn Sie für ihn bürgen und uns Ihre Passnummer geben, dann kann er in einer halben Stunde wieder im Hotel sein. Aber dann muss er sich morgen früh um zehn Uhr wieder bei uns einfinden, um das Verhör zu beenden.«
Irina Miller las ihre Passnummer vor, bedankte sich bei Inspektor Thomas und bat ihn, ihren Bruder ohne weitere Verzögerung loszuschicken.
»Abgemacht«, sagte Inspektor Thomas. »Dann darf ich Ihnen einen erfolgreichen Abend wünschen.«
Er bietet zumindest Zerstreuung, dachte sie, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Das Leben wird nie langweilig mit meinem Bruder in der Nähe. Eine Zeitlang überlegte sie, ob sie noch einige Seiten in den Bekenntnissen des Schlafwandlers lesen sollte, beschloss jedoch nach reiflicher Überlegung, es sein zu lassen.
Sie hatte sich die Warnung eingeprägt, und das sollte reichen.
Gregorius Miller alias Paul F. Kerran kam um achtzehn Minuten nach sieben zurück ins Hotel Rembrandt . Exakt dreizehn Minuten später durchquerte er zusammen mit seiner Schwester das Foyer und bestieg ein wartendes schwarzes Auto der Marke Bentley. Er hatte es nicht mehr geschafft, sich zu rasieren, aber zumindest unter den Achseln gewaschen und sich ein neues hellblaues Hemd unter seine zerknitterte Jacke gezogen. Nachdem sie nebeneinander auf dem komfortablen Rücksitz Platz genommen hatten, registrierte Irina, dass sein Geruchsbild eine Dreieinigkeit aus Rasierwasser, Deodorant und altem Whisky bildete. Sie sagte ihm, er solle sich einmal kämmen.
»Ich habe keinen Kamm. Muss ich verloren haben.«
Sie reichte ihm einen, und als er ihn ihr zurückgab, ließ sie ihn diskret auf den Boden fallen und schob ihn mit der Zehenspitze eines ihrer weichen Wildlederschuhe unter den Fahrersitz.
»Warum fahren wir nicht los?«, wollte Gregorius wissen, der inzwischen fast seine normale Stimme wiedergefunden hatte. Aber da lag noch etwas anderes darin, was sie nicht wiedererkannte. Er klang … resigniert? Sie fragte sich, ob das eine richtige Beobachtung war. Viel konnte man über ihren Bruder sagen, aber resigniert war er normalerweise nie.
Der Fahrer, ein korrekter Mann in den Fünfzigern
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