Himmel über London
nicht. Wie schon gesagt.
Wie schon gesagt, wie schon gesagt. Die Gedanken drehten sich im Leerlauf in ihrem Kopf, aber Der, der wandert durch die Nacht, Der sterbende Mann im Straßengraben und Clarissa Hendersen an jemand anderen weiterzugeben, daran war natürlich nicht zu denken. Und was sollte weitergeben heißen? Es gab keinen, der das übernehmen konnte, aus dem einfachen Grund, dass alles einzig und allein sie selbst betraf. Die Frage, ob … ob diese unangenehmen Größen ertragen oder ignoriert werden sollten. Konnte sie, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern, alle bedrohlichen Merkwürdigkeiten einfach ignorieren? War das ein möglicher Weg? Durfte man das?
Sie hatte die eitle Hoffnung gehegt, dass eine halbe Stunde neununddreißig Grad heißes Duschwasser eine positive Antwort auf diese Überlegungen bringen würde – zumindest einen Fingerzeig –, aber dem war nicht so. Ganz und gar nicht; das Chaos in ihrem Inneren hatte Bestand, und diese andere Stimme, die ebenso laut tönte wie die Auf-und-davon-Stimme, aber deutlich beharrlicher war, sie war einfach nicht zum Schweigen zu bringen:
Öffne das Buch!, forderte sie. Lies ein paar Seiten weiter. Das wird deine Rettung sein!
Wieso?, fragte sie. Warum zum Teufel?
Weil du Kräften ausgesetzt bist, die so viel stärker sind als du selbst, antwortete die Stimme nüchtern. Sie zu ignorieren, das wäre der größte Fehler!
Ich bin dabei, den Verstand zu verlieren, dachte sie und stellte das Wasser ab. Ich befinde mich am Rande eines Nervenzusammenbruchs. So wird es wohl sein.
Irgendwie schien ihr diese Schlussfolgerung ein wenig Trost zu spenden. Zumindest war es eine einfache, logische Erklärung der gesamten Angelegenheit.
Und wenn sie tatsächlich verrückt war, dann konnte sie ebenso gut ein paar Seiten weiterlesen. Dann spielte das sowieso keine Rolle mehr. Sie fühlte einen merkwürdigen Anflug von Erleichterung angesichts dieser Feststellung und begann sich mit dem neuen Badelaken vom Wholefood Market abzutrocknen. Denn nichts ist mehr von Bedeutung, wenn man seinen Halt voll und ganz verloren hat, so war es nun einmal.
Sie zog sich einen sauberen Slip, einen neuen BH und das Kleid an, das sie an diesem Abend tragen wollte. Schaute auf die Uhr. Es war halb sieben. Noch eine Stunde, bis ein bestellter Wagen Gregorius und sie vor dem Hoteleingang abholen sollte.
Inwieweit ein Gregorius sich rechtzeitig einfinden würde, das musste man natürlich erst einmal sehen.
Doch das war nicht ihr Problem. Ihr Problem war ein ganz anderes. Sie zog das Buch wieder aus der Reisetasche hervor, setzte sich in den Sessel, schaltete die Stehlampe ein und fuhr mit ihrer Lektüre dort fort, wo sie vor ein paar Stunden aufgehört hatte.
Es ist vollkommen normal, dass du dich mittlerweile fragst, ob du wahnsinnig geworden bist. Ich versichere dir: Es hat keinerlei Bedeutung. Die Begeisterung der lebenden Menschen, diese Linie zu ziehen – zwischen dem Normalen und dem Paranormalen, zwischen gesund und krank –, ist in unserer Welt (die so unendlich viel komplexer ist, bedenke nur, wie viele wir sind) fast lächerlich. Lass dich von dieser Nichtigkeit also nicht stören. Denn es geht um Versöhnung, und um diese Versöhnung zustande zu bringen, ist es äußerst wichtig, dass du am Leben bleibst. Ich be sitze nicht viele dieser Gaben, die ihr, die ihr am Tage wandelt, gern als übernatürlich anseht – aber ab und zu ist es mir gestattet, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Ob x oder y oder z eintreffen wird, wenn du dich für a, b oder c entscheidest. Welche Wege zum Tod führen und welche in andere Richtungen. Ich möchte, dass du einen Umweg einschlägst, und ich möchte dich hiermit erneut und auf das Schärfste ermahnen, dich vor dieser Feier in Acht zu nehmen. Wenn es wirklich deine Absicht ist, dorthin zu fahren, aus irgendwelchen familiären Gründen, die ich nur schwer erkennen und noch schwerer verstehen kann, dann sorge zumindest dafür, dass du in dem Zeitraum, nachdem die Teller und das Besteck für das Hauptgericht abgeräumt werden, und dem Zeitpunkt, bevor die Käseplatte auf dem Tisch steht, nicht am Tisch sitzt. Es sollte sich dabei um nicht mehr als ein paar Minuten handeln, geh auf die Toilette, geh hinaus, um kurz Luft zu schnappen oder was immer dir einfällt, aber halte dich vom Tisch fern. Die Regeln, denen unsere Kontakte mit den noch nicht Toten unterliegen, verbieten mir mehr zu sagen, aber ich bitte dich: glaube meinen
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