Himmel über London
sagte der Mann, »Chief Intendent bei Scotland Yard, um genau zu sein.«
»Chief Intendent?«
Der Mann nickte. »Genau. Aber in gut einem Jahr werde ich pensioniert, dann wird die Londoner Unterwelt erleichtert aufseufzen.«
Wieder lachte er und trank von seinem Bier. Dann streckte er seine Hand über den Tisch. »Arthur McEvans, angenehm.«
»Selén. Lars Gustav Selén.« Er dachte einen Moment lang nach. »Dann nehme ich an, dass Sie …«
»Ja?«
»Dass Sie schon so einiges gesehen haben? Die Hinterhöfe der Gesellschaft, die dunklen Seiten des Menschen und so? Entschuldigen Sie meine Frage.«
»Auf jeden Fall«, antwortete McEvans und sah plötzlich sehr ernst aus. »Zweifellos habe ich so manches gesehen. Wenn es darum geht, wozu Menschen in der Lage sind, was sie sich gegenseitig antun können, da habe ich aufgehört, mich zu wundern.«
»Tatsächlich?«, fragte Lars Gustav, konnte aber keine Frage anfügen, da McEvans gleich fortfuhr:
»Aber Sie als Schriftsteller sollten doch einiges von diesen Dingen verstehen. Das ist doch wohl der Witz mit der Literatur, oder? Den Deckel anzuheben und nachzusehen, an welchen Krankheiten wir so leiden? Ich war bei vielen Obduktionen dabei, wie Sie sich denken können, aber mit steigendem Alter ist mir klar, dass es tatsächlich nur einen Körperteil gibt, der es wert ist, unters Messer zu kommen. Unsere Seele.«
»Eigentlich bin ich gar kein Schriftsteller«, sagte Lars Gustav, nachdem er kurz überlegt hatte, ob er das wirklich sagen sollte. »Den größten Teil meines Lebens war ich Taxifahrer. Aber ich glaube, ich verstehe, wovon Sie reden.«
»Natürlich verstehen Sie das«, erwiderte der Fremde, hob sein Glas und leerte es. »Aber ich fürchte, ich muss jetzt los. Es ist noch einiges an Papierkram zu erledigen, bevor ich die Nachttischlampe ausschalten kann. Es geht um diesen verfluchten Uhrenmörder, von dem Sie sicher schon gehört haben. ›The Watch Killer‹. Wir sind ihm auf der Spur, wirklich kurz davor, ihn zu schnappen. Vielen Dank für die nette Unterhaltung.«
Und als er um die Ecke beim Dawson Place verschwunden war, wusste Lars Gustav Selén plötzlich, was ihm so bekannt vorgekommen war.
Chief Intendent McEvans war genau genommen eine Kopie seiner selbst.
Er war kurz nach halb zwölf zurück im Lords . Sein Plan war gewesen, sofort ins Bett zu gehen und tief und lange zu schlafen vor dem bevorstehenden Tag. Doch der Schlaf ließ auf sich warten. Die Nachbarn im Zimmer nebenan hatten offensichtlich Gäste, sie spielten Musik, eine Art munterer slawischer Volksmusik, wie es sich anhörte, und sie unterhielten sich mit lauten Stimmen. Besonders die Stimme einer Frau durchschnitt in regelmäßigen Abständen die Stille der Nacht. Es schien, als wiederhole sie jedes Mal genau die gleichen Worte, und nach einiger Zeit konnte Lars Gustav sie auswendig, obwohl er keine Ahnung hatte, in welcher Sprache sie geäußert wurden:
»Jeji vira, nadaje a vytrvalost jsou nevycerpatelne!«
Falsche Aussprache vorbehalten. Aber eigentlich waren nicht die Geräusche aus dem Nachbarraum der Hauptgrund, dass er Probleme hatte einzuschlafen. Es waren die Gedanken an den folgenden Tag, die ihm keine Ruhe ließen, alle Details, die verschiedenen Aktivitäten vom Morgen bis zum Abend betreffend und die letztendliche Auflösung im Restaurant in der Great Portland Street. Er hatte dort bereits an einem der ersten Tage in der Stadt einen Tisch reserviert, hatte dort auch ein teures Mittagessen verzehrt, wahrscheinlich das teuerste seines Lebens, und alles war zu seiner größten Zufriedenheit verlaufen.
Natürlich war es nicht einfach zu sagen, welche Bedeutung dieser Ausdruck – zu seiner größten Zufriedenheit – in diesem Zusammenhang hatte, aber das Essen war außerordentlich gut und das Personal entgegenkommend gewesen. Aufgrund seines eintönigen Lebens hatte Lars Gustav Selén keine größeren Erfahrungen mit Restaurants, aber derartige Variablen waren für die Beurteilung auch nicht besonders wichtig. Während er jetzt in seinem zerwühlten Hotelbett lag, in dieser letzten Nacht, und sich drehte und wendete, um in das vielversprechende Land des Schlafs zu finden, dachte er, dass es doch ziemlich viel war, was ihm während seiner Zeit auf Erden entgangen war. Aber das war nichts, was er bereute oder als Unglück ansah; sicher lag alles an den Umständen, aber die waren nichtsdestotrotz von ihm selbst so gewollt gewesen. Das reiche innere Leben, das er dank
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