Himmel über London
der Literatur und seinem Schreiben gehabt hatte, hatte alles andere kompensiert, nein, nicht kompensiert, das war das falsche Wort, es hatte den Sinn übernommen (den unbewussten?) – und die beliebige Anhäufung von Erfahrungen, die die innerste Triebkraft und das Leiden jedes Menschen auszumachen schienen. So hatte er zumindest dreißig Jahre lang gedacht, aber in letzter Zeit, ja, seitdem er in der Zeitung von Madeleine Wilders Tod gelesen hatte, da waren ihm gewisse Zweifel daran gekommen. Er hatte sie nicht bekämpft, sondern einfach nur in Ruhe gelassen, ungefähr wie man eine leichtere Erkältung oder eine Schürfwunde ignoriert, wohl wissend, dass so etwas von alleine heilt. Er wusste auch nicht, worin dieser Zweifel eigentlich bestand, wie er in seinem Kern aussah, doch als er Irina Miller vor zwei Tagen von seinem Fenster aus betrachtet hatte, wie sie den Bürgersteig entlanggegangen kam, mit seiner Brieftasche in einer Plastiktüte – und wie sie das Hotel wieder verließ, nachdem sie ihre Aufgabe erledigt hatte –, ja, obwohl diese wichtige Grenzüberschreitung tatsächlich so gut funktioniert hatte, wie man es sich nur hatte wünschen können, so war dadurch doch etwas verschoben worden.
Ja, genau: verschoben. Auch jetzt, anderthalb Tage später, dachte er an sie und an das Schicksal, das sie ereilen sollte. War es wirklich angemessen? War es gerecht? Gleichzeitig wusste er, dass man nicht auf diese Art darüber denken durfte, denn wenn Leben und Literatur in dieser Form Hand in Hand gehen sollten, wie er es immer voraussetzte, dann gab es keinen Spielraum für alternative Handlungsabläufe. Das, was sich wirklich ereignete, geschah, weil es geschehen musste, das galt für Irina Miller, das galt für alle anderen Figuren in dem Roman, und das galt auch für ihn selbst. Insoweit es einen freien Willen gab, durfte der auf genau die gleiche Art und Weise auf beiden Schauplätzen agieren. Komplizierter war es nicht.
» Jeji vira, nadaje a vytrvalost jsou nevycerpatelne!«, rief die Frau auf der anderen Seite der Wand. Lars Gustav Selén seufzte und drehte sich im Bett. Drückte sich das Kissen auf den Kopf und ließ seine Gedanken in den Mai 1968 zurückwandern. Das war die beste Art, diese Zweifel zu verdrängen.
Und ganz gewiss lag dieses Kissen wie ein Schalldämpfer eine ganze Weile später immer noch auf seinem Kopf, denn Lars Gustav Selén war einer der wenigen Menschen in Zentrum Londons, der nicht aufwachte, als die große Glocke in der St. Matthew’s Church am Petersburgh Place in Bayswater um Viertel vor vier Uhr morgens von fast sechzehn Trillionen Kilowatt getroffen wurde. Wovon schon berichtet wurde.
62
I rina Miller stand unter der Dusche.
Sie stand dort bereits seit gut und gern fünfundzwanzig Minuten. Normalerweise half das, spülte den größten Teil des Schmutzes von ihrem Körper und ihrer Seele, aber dieses Mal funktionierte es irgendwie nicht. Die Physis war wohl so sauber, wie sie unter diesem zweifelhaften fremden Großstadtwasser werden konnte, zumindest musste man davon ausgehen, wenn man es aushalten wollte, aber an den inneren Schmutz kam es nicht heran. Es funktionierte einfach nicht, was um alles in der Welt sollte sie nur machen?
Wäre sie dem lautesten Impuls gefolgt, dann hätte sie schlicht das Feld geräumt. Ihre Tasche gepackt und heimlich ausgecheckt. Wäre hinter das Lenkrad des Mietwagens geschlüpft, der unten in der Garage stand, und hätte Kurs Südost eingeschlagen, Richtung Folkstone und Ärmelkanal. Hätte alles andere seinem Schicksal überlassen: Leonards verfluchte Feier, Mauds nerviges Gequatsche, Gregorius’ verdrehtes Scheingefecht mit der Polizei, Steven G. Russells eitle Schlafwandlerbekenntnisse und … und diesen ganzen unangenehmen Aufenthalt, zu dem sie sich hatte überreden lassen, obwohl sie bereits von Anfang an gewusst hatte, dass … ja, was hatte sie gewusst? Was hatte sie bereits im Gefühl gehabt? Wobei diese Frage in der augenblicklichen Situation natürlich keine Rolle spielte. Momentan war es nur wichtig, mit der jetzigen Situation zurechtzukommen.
Was nicht so einfach war. Irina Miller mochte keine Dinge, die sie nicht verstand. Was derartige Scherereien anging, so war es meist das Beste, nicht daran zu rühren. Wenn komplizierte Phänomene und Beziehungen verstanden und gehandelt werden mussten, dann war es von Vorteil, das anderen zu überlassen. Oft funktionierte das, aber nicht immer. Und in diesem Moment funktionierte es
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