Himmel über London
rina Miller war nie besonders versessen auf teure Weine gewesen, doch als der vierte Gang auf den Tisch kam – mit Grappa flambiertes Rehfilet mit Morchelsauce und Kartoffeln à la Pompadour –, wurde ihr klar, dass auch sie bei ihrem vierten Glas Wein war. Er war dunkelrot, hieß irgendetwas mit Cheval, und obwohl die Umstände nun einmal waren, wie sie waren, stellte sie fest, dass er unerhört gut schmeckte. Wie der Kuss eines arabischen Prinzen, dachte sie, und vielleicht ließ sie gerade diese Formulierung etwas nüchterner werden.
Was für ein arabischer Prinz? Sie rief sich in Erinnerung, dass sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand – aber gleichzeitig nicht daran dachte, ihn in voller Blüte ausbrechen zu lassen. Nicht in dieser Gesellschaft, weiß Gott nicht. Sie hatte keine Ahnung, auf welche Weise sieben, acht Glas Wein à hundertfünfzig Pfund pro Flasche den Prozess des Wahnsinns beeinflussen würden. Ihn beschleunigen oder abbremsen? Erst einmal beschloss sie, sich mit dem Konsum ein wenig zurückzuhalten und sich selbst im Auge zu behalten.
Immer noch stand es schlecht um die Konversation am Tisch, doch das störte sie nicht. Der Mann mit dem Verband, Mr. Skrupka, zu ihrer Linken aß mit gutem Appetit, aber er hatte sich erst zweimal direkt an sie gewandt. Zuerst hatte er nach den Verwandtschaftsbeziehungen der Gruppe gefragt, und darüber hatte sie ihn in einfachen, direkten Worten informiert. Dann, anderthalb Teller später, hatte er wissen wollen, ob sie etwas über Gedächtnisverlust wüsste, und darauf hatte sie verneinend geantwortet.
Aus irgendeinem Grund, den sie selbst nicht richtig benennen konnte, hatte sie ihn nicht danach gefragt, warum er eigentlich hier war. Wer er war. Aber vielleicht hing es in irgendeiner Weise mit diesem Schlafwandler zusammen, vielleicht hatte Steven G. Russell auch hier seine Finger im Spiel, und es war eigentlich auch egal, ob sie es wusste oder nicht.
Gregorius war nicht wiederzuerkennen, obwohl auch er seinen Teil Wein konsumiert hatte. Sie hatte ihn selten oder so gar nie so niedergeschlagen erlebt, sein unerschütterlicher Optimismus von der gemeinsamen Autofahrt war in alle Winde verweht. Es sah aus, als brütete er etwas Saures, Finsteres und Hoffnungsloses aus, und sie nahm an, dass es das erwartete Erbe und dieser bandagierte Fremdling waren, die in seinem Schädel rumorten. Wobei übrigens genau die gleichen Dinge auch in ihrem Kopf rumorten, aber trotz allem waren es die Worte des Schlafwandlers, die ihre Gedanken am meisten beschäftigten.
Versöhnung hatte er geschrieben, er, der des Nachts wanderte und dessen Hauptgrund dafür, sich ihr auf diese unbegreifliche Art und Weise zu nähern, darin bestand, dass diese zustande kommen sollte.
Aber wie? Und warum? Wer sollte mit wem versöhnt werden? Oder mit was ?
Es konnte sich ja wohl bei dem einen Part um keinen anderen als sie selbst handeln, und der andere Part … ja, das waren natürlich der Mann im Graben und Clarissa Hendersen.
Aber jedes Mal, wenn sie versuchte, sich diesen beiden – diesen schon vor langer Zeit verstorbenen – Menschen in ihren Gedanken anzunähern, wurde es irgendwie nur schwarz in ihrem Kopf. Es war etwas, was sie nicht begreifen konnte. Sich nicht einmal vorstellen konnte. Dieses Buch und diese Nachricht im Pub an der Moscow Road und alles. Es ist nicht zu fassen, dachte Irina Miller. Und was nicht zu fassen ist, das will ich gar nicht wissen. Wir, die wir durch die Nacht wandern?
Und seine Warnungen? Sie schwebe in großer Gefahr bei diesem Essen, hatte Steven G. Russell behauptet. Sie solle sich in Acht nehmen, sonst würde sie sterben, und seine Anstrengungen wären damit vergebens. Zwischen dem Hauptgang und dem Käse.
Jetzt befanden sie sich beim Hauptgang. Der Augenblick der Gefahr näherte sich. Obwohl sie sich größte Mühe gab, alles aus einer nüchternen Distanz heraus zu betrachten, spürte sie, wie ihre Hand zitterte, als sie einen kleinen Bissen Pommes de Pompadour auf ihre Gabel schob.
Sie trank einen Schluck Wein, um sich zu beruhigen.
Milos fühlte sich schwindlig.
Schwindlig und verwirrter, als er zugeben wollte, irgendwie hatten seine Gedanken einen ziemlichen Stoß abbekommen. Er hatte es bereits gespürt, als er im Krankenhaus aufgewacht war, wollte Leya aber nicht beunruhigen. Außerdem war es ja wichtig gewesen, dass er dort fortkam, deshalb hatte er dieses Gefühl lieber etwas im Dunklen gelassen.
Und wenn es etwas gab, das sich
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