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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Krebsforscher oder anderer frömmelnder Schurken in der Wohltätigkeitsbranche landen würden.
    »Ähm! Es sieht so aus, als ob alle das Reh verspeist hätten. Der nächste Gang im Menü ist eine einfache Käseplatte, während der Notar Prendergast mein Testament verlesen wird … wie schon gesagt. Doch bevor die Käseplatte hereingetragen wird, lasst uns symbolisch anstoßen, mir zur Erinnerung und auf mein Treiben hier auf Erden. Zu diesem Anlass werde ich mir selbst einen passenden, vitalisierenden Cocktail mischen, und bevor es so weit ist, ist es allen, die es wollen, erlaubt, fünf Minuten die Beine auszustrecken. Ähm!«
    Und im selben Moment war plötzlich ein Tumult aus dem angrenzenden Eingangsbereich zu hören. Einer dunklen Männerstimme folgte eine helle Frauenstimme, ein Möbelstück fiel um, und ein Kellner gab einen Schrei von sich.

71

    S ie kam direkt auf ihn zu, und er irrte sich nicht.
    Bevor der Mann in dem weißen Hemd sie zu packen bekam und an ihrem Arm ziehen konnte, war sie bereits bis zur südwestlichen Ecke der Kreuzung Sussex Gardens und Edgware Road gekommen. Lars Gustav Selén kam von Süden, Marble-Arch-Richtung, und sie wären sicher Brust an Brust aufeinandergeprallt. Wenn nicht das Weißhemd sie daran gehindert und zur Seite gedreht hätte.
    Doch für den Bruchteil einer Sekunde – die außerdem klar und eindeutig von der Straßenlaterne an der Ecke erleuchtet wurde – war ihr Gesicht nicht mehr als einen halben Meter von seinem eigenen entfernt. Sie sahen einander direkt in die Augen, es war gar nicht zu vermeiden.
    In den direkt darauf folgenden Sekunden, in denen das Paar die Sussex Gardens entlang zurückging, in die Richtung, aus der sie gekommen waren, auf Paddington zu, blieb er an der Straßenecke stehen und hielt sich an der Laterne fest. Der Abend hatte bereits mehrere unerwartete Veränderungen enthalten und ihm mehr Überraschungen geboten, als er jemals hätte ahnen können, aber dass so etwas im Rahmen der Möglichkeiten war … dass Carla Carlgren nach so vielen Jahren wie ein Blitz aus diesem dunklen Londoner Himmel auftauchen konnte, ja, das war ein Ereignis und eine Entwicklung jenseits jeden Vorstellungsvermögens.
    Und auch wiederum nicht, dachte er, während er die Verfolgung aufnahm. Auch wiederum nicht. Jede Erzählung gebiert ihre eigene Logik, je näher dem Ende, umso kompromissloser, und wenn sie schließlich voll und ganz sichtbar wird, dann kann sie plötzlich als die selbstverständlichste aller Selbstverständlichkeiten erscheinen – auch wenn man noch einen Moment zuvor nicht die geringste Ahnung davon hatte. Obwohl man die magisch-realistischen Konsequenzen unmöglich hätte vorhersehen können, und genau deshalb möchte man, wenn man sie plötzlich vor Augen hat, einfach nur ausrufen: Ja, sicher! Natürlich!
    Aber er musste alle Überlegungen über epische Bedingungen in die Zukunft verschieben, denn jetzt ging es darum, dem Paar zu folgen und es nicht aus den Augen zu verlieren. Ihnen zu folgen und bereit zur Handlung zu sein; plötzlich begriff er, dass es genau diese Entwicklung war, die zur letztendlichen Lösung führte. Das war der Sinn der Erzählung an sich (beabsichtigt, in höchstem Grade beabsichtigt), dass er auf diese Art und Weise auf Carla stoßen sollte, nach all diesen Jahren; deshalb war es gelaufen, wie es gelaufen war, deshalb hatte Leonard Vermin das Restaurant gewechselt, deshalb saß der Erzähler selbst nicht scheinbar gleichgültig in diskretem Abstand in einem Restaurant und beobachtete, wie Irina Miller sich genau in diesem Moment von ihrem Stuhl erhob, wie die versammelten Festgäste ihre Aufmerksamkeit auf das richteten, was dort draußen im Eingangsbereich des Restaurants passierte und wer dort tatsächlich vor der Tür stand … nein, der Platz des Erzählers war hier, bei den Sussex Gardens im Herzen von Paddington – wo das betreffende Paar, das weiße Hemd und Carla, gerade die Straße überquerte, auf eine lange Reihe billiger Hotels in einer Parallelstraße zuging, wie es aussah, diese Gasse lief nur einige Meter weiter Richtung Norden, war wohl eigentlich gar keine richtige Straße, nicht einmal eine mews. Vielleicht wohnten sie in einer dieser kärglichen Herbergen? Waren sie dorthin auf dem Weg? Nein, das waren sie nicht, sie gingen an allen Eingängen vorbei und bogen um die Ecke auf den Norfolk Place. Lars Gustav folgte ihnen in sicherem Abstand. Er registrierte, dass das weiße Hemd Carla die ganze Zeit

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