Himmel über London
Park mit der netten Kurve, »der Serpentine«, dazwischen. Green Park und St. James’s, ich genieße es, das will ich gar nicht leugnen, genau wie den Fluss und all die Brücken. Es liegt eine lässige, etwas abgenutzte Schönheit über allem. Obwohl der Kulturpalast, der unten am Südufer des Flusses liegt, natürlich jüngeren Datums ist; Royal Festival Hall, National Theatre, Tate Modern und was es da alles gibt, es gefällt mir, dort herumzuspazieren. Dann die elegante Fußgängerbrücke hinüber zur St.-Paul’s-Kathedrale, ja, ich bin an den ersten Tagen wirklich gewandert, wie der schlimmste Tourist. Habe mich in Soho schubsen und im Covent Garden quetschen lassen, Leonard sagt, dass es nicht mehr so aussieht wie früher, ich glaube, es gefällt ihm gar nicht, dass die Stadt sich verändert hat. Es erinnert ihn an sein eigenes Alter, und ich kann mir vorstellen, wie schmerzhaft das ist. Auch wenn es natürlich nun einmal nicht zu ändern ist.
Uns trennen fünfzehn Jahre, und manchmal – vielleicht ganz besonders in diesen Tagen – fällt es mir schwer zu begreifen, dass wir seit zwei Jahrzehnten zusammen sind. Wenn ich ihn anschaue – in einem unbeobachteten Moment am Mittagstisch oder wenn er seine Zeitung liest –, habe ich manchmal den Eindruck, einem mir vollkommen Fremden gegenüberzusitzen. Trotz all meiner emphatischen und therapeutischen Fähigkeiten – oder vielleicht gerade deshalb?
Wer bist du eigentlich, Leonard Vermin? Der Gedanke kommt mir dann. Was weiß ich über deine innersten, deine tiefsten Beweggründe? Was sprudelt aus deinem Lebensbrunnen kurz vor dem Schluss noch nach oben? Die Zeit wird ja häufig knapp, so in der letzten Stunde.
Andererseits, denke ich dann. Was weiß ich über einen von diesen meinen geringsten Brüdern? Sind wir nicht alle Fremde für den anderen? Das sind Fragen, die in gewisser Weise mein gesamtes Berufsleben untergraben, und ich versuche sie abzuschütteln.
Auf meinen Spaziergängen gehe ich auch in einige Kirchen. Weil ich mich hinsetzen und die Füße ausruhen muss natürlich, aber nicht nur deshalb. Mir gefallen die Räume und die Nähe. Wenn ich »Nähe« schreibe, dann meine ich wahrscheinlich »Die Möglichkeit einer Nähe«. Doch diese Möglichkeit reicht ein gutes Stück, und wenn die Grenze überschritten ist, und es kommt vor, dass sie es ist, dann bemerke ich es nie genau in dem Moment, in dem es geschieht, plötzlich begreife ich nur, dass ich zurück auf der Erde bin und dasitze und an meine schmerzenden Füße denke. Es ist, als bekämen gewisse Dinge einfach nicht ihren richtigen Platz in der Zeit. Sie verstecken sich in einer Falte der Zeit, und diese Falten kommen nur an ganz sorgfältig ausgewählten Plätzen zum Vorschein. Beispielsweise in Kirchen, einigen Kirchen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich selbst verstehe, wovon ich rede.
Ich ruhe die Füße auch in einigen Cafés aus, zweifellos. Heute Nachmittag saß ich in einem Straßencafé ganz in der Nähe der St.-Paul’s-Kathedrale und las in einem Gratisblättchen, das ich kurz zuvor von einem Zeitungsboten auf der Straße bekommen hatte, über einen eigenartigen Mord. Oder eher über eine ganze Reihe von Morden. Der Mörder bindet seinem Opfer, nachdem er es getötet hat, eine Armbanduhr um – eine Armbanduhr, die offenbar immer genau dann stehen bleibt, wenn der Mord geschieht. Alle Taten – vier Stück – wurden in London begangen, die letzte in der vergangenen Nacht in Hampstead Heath. Während ich meinen Cappuccino trinke, denke ich darüber nach, welch finsteres Motiv im Kopf eines solchen Menschen zu finden sein muss, komme aber nicht sehr weit mit meinen Überlegungen. Wobei ich denke, dass ich – mit meiner Klientenerfahrung – es eigentlich sollte.
Als wir am dritten Abend zusammen essen waren – im Harlem , einem kleinen Restaurant an der Westbourne Grove gleich um die Ecke des Hotels mit einem Jazzclub im Keller –, bemerkte ich, dass Leonard etwas bedrückt aussah. Ich fragte ihn – wie immer, fürchte ich –, ob er seine Medikamente auch ordentlich genommen habe und ob er Schmerzen habe, und er antwortete, dass es ihm ausgezeichnet gehe. Dann sagte er etwas, was ich nicht so recht deuten konnte. Wenn man kurz vor dem Ende steht, gibt es viel, um das man sich kümmern muss, aber das wirst du eines Tages auch noch bemerken.
Es klang zweifellos ein wenig anklagend, und ich überlegte, ob er dabei war, die Orientierung zu verlieren. Den Sinn für die
Weitere Kostenlose Bücher