Himmel über London
Wirklichkeit, Doktor Sobotka sprach mit mir unter vier Augen über diese Problematik, bevor wir uns hierher aufmachten, und er bat mich, darauf zu achten. Für eine Person mit Leonards Temperament und Neigungen wäre es gut möglich, in so einer Lage einen mentalen Absturz zu erleiden. Genau so drückte er sich aus: einen mentalen Absturz. Ich bin mir nicht sicher, was genau er damit gemeint hat, es ist kein anerkannter psychiatrischer oder therapeutischer Begriff, aber ich habe Sobotka nie darum gebeten, es zu präzisieren. Er ist ein Psychiater der mehr oder weniger selben Schule wie mein erster Mann, und ich entferne mich immer mehr von derartigen dynamischen Vorstellungen.
Dennoch beunruhigt es mich. Ein mentaler Absturz, das klingt irgendwie ziemlich ungut, und dass Leonard mit etwas hinter dem Berg hält, das wird immer offensichtlicher. Aber ich habe beschlossen, es dabei bewenden zu lassen, trotz allem sind wir noch nicht am Ziel unserer Reise angekommen. Nachdem wir an diesem dritten Abend ins Bett gegangen waren und ich hörte, wie er in seinem Alkoven anfing zu schnarchen, da dachte ich stattdessen über meine eigene Lage nach. Ich habe das Gefühl, als würden diese Tage – diese fremde Umgebung und die leicht surreale Situation, von der hier trotz allem die Rede ist – zur Reflektion einladen. Ich fühle mich, als stünde ich auf einer Anhöhe und könnte mich selbst und mein Leben von einem neuen und in irgendeiner Weise klärenden Blickwinkel aus sehen. In Anbetracht von Leonards Zustand weiß ich schließlich genau, dass sich innerhalb der nächsten Monate oder des kommenden halben Jahres vieles verändern wird – vielleicht auch noch früher –, also ist es wahrscheinlich höchste Zeit.
Auch wenn ich selbst nicht vor dem definitiven Ende stehe, sondern mein geliebter Gatte.
Mein Gatte? Wieso benutze ich plötzlich dieses Wort?
10
I ch beschloss, Therapeutin zu werden, nachdem ich vergewaltigt worden war, als ich sechzehn Jahre alt war.
So ist es dazu gekommen. Keiner der Männer, mit denen ich zusammen war, und keines meiner Kinder weiß davon. Es passierte nach einer Schulfeier an einem Herbstabend in Kaalbringen, wo ich mit meinen Eltern und meinem drei Jahre älteren Bruder aufwuchs. Die Täter, denn es waren zwei, waren betrunkene Jugendliche aus der Nachbarstadt Oostwerdingen, und die Polizei konnte sie bereits am nächsten Tag festnehmen. Sie gestanden alles, sagten, dass sie es heftig bereuten, und saßen acht Monate im Gefängnis als Strafe für das, was sie getan hatten.
Was mich betraf, dauerte es länger, um wieder auf die Beine zu kommen. Direkt nachdem es passiert war, sprach ich mit vielen wohlwollenden und verständnisvollen Erwachsenen – oder besser gesagt, sie sprachen mit mir –, aber erst ein halbes Jahr später kam ich in Kontakt mit einer richtig guten Therapeutin. Sie hieß Brigitte Clausen, sie war klein, rothaarig, und es war etwas an ihrem Blick und ihrer Art zu sprechen und zuzuhören, was mich faszinierte. Später begriff ich, dass ich mich wohl in sie verliebt hatte, aber eine derartige Liebe war nichts, was ich mir zu jener Zeit hätte vorstellen können. Wir trafen uns zweimal in der Woche nach der Schule, sie hatte ihre Praxis im ersten Stock eines alten gelben Holzhauses unten am Hafen, und ich erinnere mich, dass ich oft das Gefühl hatte, ich säße in einem Vogelkäfig, wenn ich bei ihr war. Ich war ein Vogeljunges, das verloren gegangen war und nun wieder heimkehrte, das war natürlich ein kindisches Bild und ein ebensolcher Gedanke, doch es half mir beim Gesundwerden.
Und während der Jahre, in denen ich zu Brigitte ging, traf ich meine Berufswahl. Ich wollte werden wie sie, wenn ich erwachsen war. Das tun, was sie tat. Helfen, heilen, retten, es war ein einfacher, naheliegender Entschluss. Dass die Wirklichkeit später dann aus bedeutend komplizierteren Prozessen bestand, als sich um grob behandelte Vogeljunge zu kümmern, war eine andere Sache. Aber Unwissenheit ist wichtig als Schutz; wenn wir von Anfang an wüssten, was es tatsächlich bedeutet zu leben, dann würden die meisten von uns sich dieser Aufgabe gar nicht erst stellen. Es nie wagen, zum Tanz anzutreten.
Nach dem Gymnasium fing ich an Psychologie an der Universität von Saaren zu studieren, und dort traf ich meinen ersten Freund. Er war Däne, hieß Sören, und ihm war es zu verdanken, dass ich eine einigermaßen gesunde Einstellung zur Sexualität bekam, trotz meiner finsteren
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