Himmel über London
heraus und verdrehte die Augen, es war so ein zärtliches Bild, dass Irina die Tränen in die Augen stiegen. Nicht nur, weil es so schön war; der ältere Mann und der Säugling und das Sonnenlicht, das schräg durch die Jalousien hereinsickerte – sondern weil es gerade die beiden waren. Anna und Leonard. Sie hatte sie nie bewusst zusammengebracht, sie lebten in ihrer Vorstellung in getrennten Welten, doch jetzt sah sie, dass es auch anders sein konnte. In diesem Moment, an diesem Ort, waren sie füreinander Wirklichkeit, und etwas, von dem sie zugeben musste, dass es Eifersucht war, stieg in ihr auf.
Es stieg auch jetzt wieder in ihr auf, das schöne Bild und der Neid darauf. Und die Scham darüber, dass sie diesen Neid empfunden hatte.
Sehne ich mich nach einem eigenen Kind?, dachte sie. Ist das wirklich möglich? Mit meinem Sauberkeitswahn, meinen Macken und allem?
Doch der Gedanke, diese Sache mit Herbert zu diskutieren, erschien so absurd, dass sie ihn sofort begrub und an etwas anderes dachte.
London, beispielsweise. Schmutzige Taxis. Die Essensfrage. Hotelzimmer mit Teppichböden! Mein Gott, sie musste Gregorius erklären, dass sie unter keinen Umständen in einem Zimmer mit Teppichboden zu schlafen gedachte.
Aber vielleicht hatten Leonard und Maud das mit der Unterkunft ja bereits geregelt? Und dann? Wie viele Nächte und in was für einem Hotel? Sie schaute auf die Uhr. Es war zehn Minuten vor eins. Sie beschloss, diese Frage sogleich am folgenden Morgen in Angriff zu nehmen.
9
Maud
I ch wittere etwas.
Manchmal habe ich das Gefühl, als wäre das schon mein ganzes Leben lang so gewesen. Dass ich versuche zu verstehen, was sich da zusammenbraut. Zumindest – wie jetzt –, dass ich etwas wittere. Auch wenn ich nicht besonders gut darin bin, so beschäftige ich mich wenigstens damit.
Die Zeichen zu deuten. Zu registrieren. Zwischen den Zeilen zu lesen.
Vor allem habe ich zugehört. Ich habe hinter meinem Schreibtisch gesessen und meine Klienten empfangen. Hunderte und Aberhunderte; ich habe ihren Geschichten zugehört, ihren Versäumnissen gelauscht. Genickt und zustimmend gebrummt und versucht, sie auf einen Weg zu bringen. In meinem eigenen Inneren nach dem Kern und den Verletzungen in ihrem Inneren gesucht.
Zuhören, interpretieren, abwägen, das ist mein Leben gewesen. Den Weg weisen, unterstützen, helfen. Nach all diesen Jahren und all diesen Gesprächen kann ich ein neutrales »Guten Tag« nicht mehr entgegennehmen, ohne es in etwas anderes zu verwandeln. Wenn jemand »Bitte schön« oder »Danke« sagt, dann registriere ich den Tonfall, den Blick und die Körperhaltung und übersetze es in meine eigene Sprache: die therapeutische.
In schwachen Stunden habe ich mir gewünscht, ein Hund zu sein.
Aber wenn ich es genauer bedenke, dann ist mir klar, dass dieser Wunsch danebenliegt: Wenn sich unsere vierbeinigen Freunde auf etwas verstehen, dann ja wohl darauf, dass sie etwas wittern. Das dazu.
Aber nun zu der Stadt hier. Ich kann sie nicht interpretieren und weiß nicht, was es zu bedeuten hat, dass wir uns hier befinden. Leonard ist irgendwie verwurzelt hier, das hat er mir ja erzählt, er hat in seiner Jugend eine längere Zeitlang hier gelebt, und ich kann spüren, wie erfüllt er davon ist, wieder hierher zurückzukehren. Zumindest zeitweise. Als wäre er in eine Wirklichkeit zurückgekehrt, die er verloren glaubte – und das, wo er gleichzeitig seinem Ende so nahe ist, es erscheint paradox und vollkommen natürlich zugleich.
Zehn Jahre seines Lebens haben sich hier abgespielt, und nachdem er damals wegging, kam er nur noch ein einziges Mal Mitte der Siebziger wieder her. Dann eine Beerdigung vor ein paar Jahren, zwei oder drei Tage nur. Ich weiß nicht, warum er nicht häufiger hier war, und wenn ich gefragt habe, bekam ich keine Antwort. Früher nicht und auch heute nicht. Seit zwei Tagen habe ich keinen richtigen Kontakt mehr zu ihm, seit wir angekommen sind. London ist verführerisch, damit kann ich es nicht aufnehmen.
Ich biete aber auch keinen Widerstand, es ist mir klar, dass es Zeit braucht. Es ist noch gut eine Woche bis zum großen Ereignis, doch bis es so weit ist, muss ich ihn unter meine Fittiche nehmen. Sonst kann es schiefgehen, das spüre ich. Was brütet er nur aus?
Was mich betrifft, ich bin noch nie hier gewesen. Ich bin in meinem Leben überhaupt nur wenig gereist. Jetzt spaziere ich durch die Parks, genau wie er es mir geraten hat. Kensington Gardens und Hyde
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