Himmel über London
vorherigen Mieters, eines Holländers namens van der Vraak, das er zwar hatte stehen lassen, aber nur unter der Androhung, zurückzukommen und es abzuholen, sobald er die Möglichkeit dazu habe – ich machte mir in dieser Beziehung keine großen Gedanken, und ganz richtig stand es immer noch da, als ich acht Monate später wieder auszog.
Ich trank Tee, rauchte zehn bis fünfzehn Zigaretten, spürte eine zunehmende nervöse Unruhe, installierte meine Stereoanlage und versuchte mich im Großen und Ganzen einzurichten. Irgendwann kurz nach Mitternacht konnte ich ein bis dato noch unbekanntes sich liebendes Paar auf der anderen Seite der Küchenwand hören, insbesondere sie (sie hieß Ruth, wie sich herausstellen sollte, war die rothaarigste Frau, die ich jemals getroffen habe, und arbeitete als Kassiererin bei Marks & Spencer unten an der Old Brompton Road, ihr Ehemann Benny starb ein halbes Jahr später bei einem Verkehrsunfall, aber Ruth fand nur wenige Wochen nach der Beerdigung einen neuen Kerl, dessen Namen ich aber nie erfuhr), und ich dachte, dass ich mich auch unter dieser Adresse würde arrangieren können. Wenn ich nachrechnete, kam ich zu dem Schluss, dass es meine neunte war, seit ich vor drei Jahren nach London gekommen war.
Aber zurück zur Aktentasche. Und meiner nervösen Unruhe.
Geld?, fragte ich mich. Konnte es sein, dass ich mit einer Aktentasche, prall gefüllt mit Bargeld, dasaß? Dollars oder Schweizer Franken oder was auch immer? Dass mir aus irgendwelchen unergründlichen Zufällen eine größere Geldsumme anvertraut worden war, in der Erwartung, dass sie dem rechtmäßigen Adressaten ausgeliefert werden sollte? Der höchstwahrscheinlich ein Schurke oder etwas anderes in der Art sein musste. Konnte es sich so verhalten? Und wenn ja, warum? Wie konnte ein derartiges Szenario im Detail aussehen?
Was wäre sonst möglich? Drogen? Geheimdokumente irgendwelcher Art? Ich konnte nicht anders, ich musste diesen Gedanken weiterspinnen, schließlich hatte ich im letzten Jahr zwei von le Carrés Spionageromanen gelesen und war ja gerade zu dem Schluss gekommen, dass Carla irgendwo im Ostblock beheimatet sein musste. Bei einer weiteren Tasse Tee und zwei oder drei Zigaretten präzisierte ich diese Annahme dahingehend, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tschechoslowakischer Herkunft war. Hießen Frauen im alten Böhmen und Mähren nicht alle Carla oder Karla? Der sowjetische Einmarsch in die Tschechoslowakei, diese schreckliche sozialistische Heimtücke, die immer noch die Schlagzeilen dominierte, lag erst zwei Wochen zurück. Im Rundfunk und Fernsehen wurde täglich und stündlich darüber berichtet, wie der sogenannte Prager Frühling und der befreite lebensfrohe linke Optimismus, der das ganze Jahr 1968 prägte – die Pariser Unruhen im Mai nicht zu vergessen, ich hatte einen langen, spekulativen Artikel darüber in der Spiff geschrieben –, wie alle diese hoffnungsvollen Tendenzen auf brutalste Art und Weise vernichtet worden waren. Die sowjetischen Panzer in den Straßen von Prag waren eine Katastrophe für die gesamte Glaubwürdigkeit der Linken, für das sozialistische Experiment an sich, in dieser Beurteilung war sich der Westen einig, aber in allererster Linie war es natürlich eine Katastrophe für das Volk der Tschechoslowakei.
Ja, so waren ungefähr die Gedanken, die mir in der Nacht nach meiner ersten Begegnung mit Carla durch den Kopf gingen, aber um bei der Wahrheit zu bleiben, so war es eher Carla, die mein Bewusstsein beschäftigte, als die möglichen politischen Implikationen.
Die erste Frau?
Dazu muss man wissen, dass ich an einem Wendepunkt stand. Oder zumindest das Gefühl hatte, dort zu stehen. Da war nicht nur meine neue Wohnung, es gab noch andere Indizien. Mein Vater war im Sommer verstorben (meine Mutter starb früh, ich glaube, diese Tatsache habe ich bereits erwähnt), meine Freundin Alison, mit der ich sieben Monate lang zusammen gewesen war (möglicherweise in Erwartung, dass Mary Fjodor den Laufpass geben würde, wie schon gesagt), hatte nur vierzehn Tage vor meinem Umzug nach Earl’s Court Schluss gemacht, und der Verlag, der ein halbes Jahr über dem, was mein Debütroman werden sollte, gebrütet hatte, hatte sich entschlossen, ihn abzulehnen. Ihr einziger Kommentar zu dem zurückgeschickten Manuskript war: »naiv, geschmacklos«. Eines Tages hatte ich in den späten Abendstunden ganz allein in einer Ecke von Hampstead Heath gehockt und eine
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