Himmel über London
Meinung sein konnte. Oft erinnerte einen das besagte Gefühl eher an einen Parlamentsabgeordneten in einem Pornoclub, aber hinterher gab es immer unglückliche Umstände oder unvorhersehbare Details, denen die Schuld gegeben werden konnte.
»Ich hab’s«, sagte er jetzt. »Verdammt, wenn du so eine Scheißangst hast, dich in ein Flugzeug zu setzen, dann mieten wir eben ein Auto, ganz einfach. Gar kein Thema, wir nehmen eine Fähre über den Kanal … oder diesen Tunnel da. Saugeil, so machen wir es.«
»Das sind achthundert Kilometer.«
»Papperlapapp. Nicht mehr als sechs oder sieben.«
»Außerdem habe ich so viel Arbeit …«, versuchte sie es wieder, hörte aber selbst, wie lahm das klang.
»Meine Güte, was ist denn mit dir los? Er bezahlt uns Reise, Hotel und den ganzen Mist. Es geht um nicht einmal eine Woche, aber es geht um Millionen. Ich … ich reiße dich in Stücke, wenn du mit dem Mist nicht aufhörst. Und zwar mit den Zähnen.«
»Vor einer Weile hast du noch gesagt, dass du überlegst, Mönch zu werden.«
»Das war vor einer Weile.«
Er lachte, und sie hörte, wie er einen Schluck trank. Jetzt hatte er die Charmeoffensive gestartet und machte außerdem auf Geschwisterliebe, und sie wusste, dass es sinnlos war, sich länger zu sträuben. Sicher, sie könnte weitermachen und mit ihm noch eine Stunde diskutieren, hin und her argumentieren, aber dabei würde es sich nur um ein Scheingefecht handeln. Das übliche Scheingefecht. Gregorius war zwanzig Minuten älter als sie, und wenn es hart auf hart kam, dann war er der Stärkere. Das war schon immer so gewesen; wenn sie gewinnen wollte, musste sie dafür sorgen, dass es gar nicht erst zu einer Auseinandersetzung kam. Und dieses Mal war diese Möglichkeit einfach nicht gegeben gewesen.
»Okay«, sagte sie. »Aber du musst das mit dem Auto und so weiter regeln. Und es muss ein neuer Wagen sein. Ich fahre nur unter Protest.«
»Zauberhaft«, sagte er. »Ich liebe dich, Schwesterherz. Gib mir nur deine Kontonummer, dann werde ich morgen alles in die Wege leiten. Er wird ja sowieso hinterher alles bezahlen, und mit meiner stimmt etwas nicht. Weißt du, diese blöde Bank, die kann einfach nicht …«
»Ich verstehe«, unterbrach sie ihn. Suchte ihre Visakarte heraus und nannte ihm die Nummer.
»Wie geht es Anna?«, fragte sie, nachdem er alle Ziffern wiederholt hatte.
»Anna geht es richtig gut.«
»Wie oft hast du sie besucht?«
»Ein paar Mal«, sagte Gregorius, und dann legten sie auf.
Anna war Gregorius’ Tochter. Er war mit ihrer Mutter gut ein Jahr lang verheiratet gewesen, sechs Monate vor und sechs Monate nach Annas Geburt, so ungefähr. Die Mutter hieß Judith, und Irina hielt weiterhin Kontakt zu ihr; vor allem wegen Anna natürlich, aber sie hatte auch nichts gegen Judith. In keiner Weise.
Und sie liebte ihre Nichte. Das tat ihre Großmutter Maud auch, und obwohl sie nicht mehr in derselben Stadt lebten, kam es vor, dass Anna sie besuchte und ein paar Stunden bei ihnen blieb, wenn ihre Mutter irgendetwas zu erledigen hatte. Bei der Oma oder bei der Tante.
Zumindest war es vorgekommen: in den ersten Jahren nach der Scheidung. Anna war inzwischen fünf Jahre alt, würde in ein paar Wochen sechs werden, und als Irina das letzte Mal mit Judith gesprochen hatte – Anfang August –, hatte sie begriffen, dass Judith einen neuen Mann kennen gelernt hatte, mit dem es ernst werden könnte.
Sie war sich nicht sicher, ob Gregorius Anna wirklich ein paar Mal getroffen hatte, so wie er behauptete. Von Judiths Seite hatte es sich eher so angehört, als hätten sie sich den ganzen Sommer über so gut wie gar nicht gesehen. Das ist nicht gerecht, dachte Irina. Wenn ich diese widerliche Reise antrete, dann muss er zumindest zusehen, dass er sich zusammenreißt. Schließlich ist Anna meine Nichte. Ich will nicht, dass sie einfach so aus meinem Leben verschwindet.
Plötzlich erschien in ihrer Erinnerung ein Bild von Leonard und Anna. Das Erinnerungsbild , es war wohl das einzige Mal, dass sie die beiden zusammen gesehen hatte. Sie hatte etwas bei ihrer Mutter zu erledigen gehabt und war in die Wohnung am Barins Park gekommen, doch Maud war nicht zu Hause gewesen. Stattdessen hatte sie dort Leonard und die kleine Anna angetroffen, die damals nicht mehr als sieben oder acht Monate alt gewesen war. Er saß im Schaukelstuhl mit ihr und schaukelte, sie lag auf dem Rücken auf seinen Beinen und lachte ihn an. Er machte Grimassen, streckte die Zunge
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